Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
mit spitzen Schreien über dem Inselchen kreisten … Diese Isba schrieb sich wunderbar in die vom Lehm gezeichnete Landschaft ein, zerstörte durch nichts ihre geologische Ruhe. Erst später begriff ich, dass dies genau jene auf der Karte verzeichnete Jagdhütte war, von der ich während meiner Fluchtzeit geträumt hatte, wo ich für ein, zwei Monate abgeschottet leben wollte, um »mich selbst zu sterben« …
Ich sagte zu Alik, ich fände es schon interessant zu sehen, ob sie noch intakt ist.
Es hatte lange niemand mehr einen Fuß über ihre Schwelle gesetzt.
In den zwei Monaten wäre ich hier sicherlich verrückt geworden.
Ich erinnere mich: Die Rinne bog Richtung Ufer ab. Wir jagten zunächst mit laufendem Motor weiter, dann tasteten wir uns mit den Rudern stakend voran. Dann zogen wir das Boot an Land. Es flutschte leicht über den Lehm, wie über Butter. Zuerst begriff ich gar nicht, dass wir jetzt da waren. Dann schnappte sich Alik seinen Rucksack und ging, über den frischen Keramikguss der Rinne glitschend, los. Das war also nun das Flüsschen Waskina.
Mit umgeschnalltem Rucksack wird eine Menge Lehm unter den Stiefeln hervorgequetscht. Ich erinnere mich, dass ich beim Schultern meines Rucksacks spürte, wie die Halsmuskelfasern knirschten, als ob Glasfaser zerrisse – so ein eisartiges Geräusch –, und ich weniger dachte, als mit meinem ganzen Sein empfand: Das kann nicht sein. Unmöglich. Das halte ich nicht aus. Ein Höllengewicht. Mit so einem Rucksack schaffe ich es nirgendwohin, nicht mal zurück. Es sei denn, ich werfe etwas ab.
Ein vorübergehender Schwächeanfall, wenn alle Gedanken, alle Empfindungen zurückweichen. Er ist mir gut in Erinnerung geblieben.
Dann sagte Alik zu Sascha:
»Vielleicht fährst du über die Isba zurück. Wartest dort die Flut ab …«
Bestimmt haben wir uns verabschiedet, einander einen guten Weg gewünscht, aber daran erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich, wie Saschas Boot verschwand und wir allein am Strand zurückblieben. Lang noch hörten wir das Auf heulen des Motors irgendwo zwischen den grauen Lehmbänken, während wir selbst fünf oder auch zehn Minuten neben unseren Rucksäcken saßen, halb uns umschauend, halb damit befasst, zu uns zu kommen. Es war doch schon ein merkwürdiger Ort – der Strand zwar aus Sand, trocken und fest, aber seeseitig ein einziges unbegreif bares Wirrwarr aus Prielen, Lehmbänken, Wasserlachen, Inseln, und das Meer selbst nicht zu sehen, auch nicht die Koschka. Eigentlich musste sie nah sein und der Promoj gleich da, der Waskina gegenüber. Aber hier gab es nichts, was mich an meine eigenen Vorstellungen erinnerte außer diesen Abermengen von Lehm und dem Nebel. Nirgendwo ein ebener »Weg«, den es, so die Idee, hätte geben müssen. Das heißt, warum eigentlich »müssen« und welcher »Idee« zufolge, war nicht ganz klar. Hier war es an der Zeit, mit den »Ideen« ein für alle Mal Schluss zu machen – das teilte mir die Insel doch ziemlich deutlich in ihrer Sprache mit, die mir zwar fremd, aber durchaus verständlich war. Und was die »Ideen« betraf, die
eide
, so taugten sie hier irgendwie zu nichts. Für Platons ganze Klugdenkereien würde ich auf diesem Ufer nicht einen roten Heller geben. An ihnen war nichts, aber auch absolut nichts, was mir in meiner jetzigen Lage helfen konnte, und im Versuch, mich zu akklimatisieren, saß ich eine Weile da, als hätten mich die Möwen mit ihren Schnäbeln bepickt.
Ich weiß nicht, was Platon in meiner Lage getan hätte. Bestimmt hätte er geglaubt, er sei gestorben und bereits im Hades.
Wahrscheinlich habe ich es auf dem Ufer dort doch mit der Angst zu tun bekommen – sonst wäre ich nicht so über den berühmten Philosophen hergefallen.
Dann ging die Angst vorbei.
Wir studierten kurz die Karte, rückten die Rucksäcke bequemer zurecht und marschierten los. Ungeachtet der deprimierend starken Anziehungskraft der Erde war die Stimmung gehoben. Dennoch erinnere ich mich an erstaunlich wenig. Zuerst kamen wohl Dünen, die mit Gras und trockenem Moos bewachsen waren. Ab und an gab es auch kahle Stellen, spärlich mit einem Gespinst aus Vogelknöterich überzogen. Das Ganze glich einer Abbildung in einem Buch über die Erdgeschichte, die ich als Kind gern betrachtet hatte und die den Grund eines ausgetrockneten vorzeitlichen Meeres zeigte … Dann kamen die Gräber der Altgläubigen. Neben einem lag im Moos ein Kreuz. Das Holz war alt, aber nicht verfault: Auf Kolgujew
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