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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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verrottet Eisen schneller als Holz. Ich nutzte das Kreuz als Vorwand, um den Rucksack abzusetzen und den Fotoapparat herauszuholen. Aber wieder: Wie die ganze Verlassenheit dieses Küstenabschnitts ins Bild fassen, wo niemand ein vor hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Jahren umgestürztes Grabkreuz angerührt hatte? Wie die ganze Hinfälligkeit dieses Friedhofs ausdrücken mit seiner Lage auf einem Sandbuckel, der sich kaum über die von einigen undeutlichen blassen Linien durchzogene plane Ebene erhebt? Und – wie diese Toten fragen: Wer seid ihr?
    Ich erinnere mich an den weißen Sand, den endlosen Strand, den unbemannten Leuchtturm. Hier kommt die Koschka – oder das, was ich für die Koschka hielt: dieses Labyrinth aus Sandbänken – bis dicht an die Insel heran, und der Leuchtturm signalisiert dies. Man fühlt das Meer nahe, obwohl es nicht zu sehen ist. Auf dem Sand liegt eine Menge Müll, den die Winterstürme über die Koschka getrieben haben. Flaschen, Hölzer, ein Rindenstück von einer Korkeiche, ein langer Bambusspross, eine Kokosnuss, eine isolierte Gasmaske und ein Zauberwürfel. Ich erinnere mich, wie Tolik eine angebrochene Wodkaflasche vom Strand auf hob, sie ohne viel Federlesens aufschraubt, einen kräftigen Schluck nimmt, angeekelt das Gesicht verzieht.
    »Salzig, Scheiße … Wasser reingekommen …«
    Sprachlos sehe ich ihn an, frage: »Wie kannst du?« – »Was denn?« – »Aber wenn in der Flasche Schwefelsäure gewesen wäre?« – »Warum denn Schwefelsäure?« – »Warum auch immer, aber du hast nicht mal vorher dran gerochen!«
    Es gelingt mir nicht, die gewünschte Wirkung zu erzielen: Potentielle Gefahren schrecken Tolik nicht.
    Das Meer hat immer irgendetwas an die Insel gespült. Nicht selten waren es gefährliche, den Nenzen ganz unbekannte Dinge. Aber jedes dieser Dinge war eine Nachricht aus einer durch die ozeanische Weite vor der Insel verborgenen Welt. Noch hat kein Treibgutjäger sich von den Gefahren abschrecken und sich die Hoffnung nehmen lassen, eine an ihn persönlich gerichtete Botschaft zu finden, irgendeinen unerwarteten, unvorstellbaren Schatz. 16
    Am Leuchtturm aßen wir zu Mittag. Ich spürte, dass ich sehr erschöpft war. Es wehte ein scharfer Wind. Man könnte meinen, bei so einem Wind Feuer zu machen, müsste einigermaßen schwierig sein – aber nein! Die Jungs buddelten eine kleine Grube in den Sand, steckten darin ein paar Spanstückchen an, und alsbald entzündete der Wind in dieser Grube wie in einem aerodynamischen Rohr trockenes, salzgetränktes Holz, und ein weißglühendes Feuer umfloss mit lodernden Zungen wie aus einem Flammenwerfer den Kessel. Zum Glück hing der Kessel nicht überm Feuer, sondern stand auf dem Boden, denn der auf der »heißen« Seite befindliche Aluminiumgriff fing praktisch sofort zu schmelzen an und zersprang. Für die Nenzen ist Wind kein Hindernis beim Feuermachen – im Gegenteil, durch ihn erhält die Flamme Reaktionshitze und wird genau in Richtung des Gefäßes gelenkt, das erhitzt werden soll, wodurch verhindert wird, dass die Wärme diffundiert und ungenutzt in den Raum entweicht.
    Ich erinnere mich, dass das Wasser im Handumdrehen kochte und wir – bestimmt aus dem geheimen Wunsch, möglichst viele Lebensmittel abzuwerfen – uns eine sehr dicke Suppe zubereiteten, die mir schmackhaft wie nie vorkam. Mit einemmal spürte ich einen Zustrom an Kraft, Zuversicht und Begeisterung. Der weiße Sand hatte hinter uns bereits unsere Spuren verwischt, die Leere schloss sich hinter uns ab, der Raum verschluckte uns!
    Wir tranken Tee. Dann Kaffee. Wir rauchten, richteten uns in diesem Gefühl der Ruhe ein, das einen überkommt, wenn es kein Zurück mehr gibt. Vor uns lag ein unbeschrittener Weg. Wir hatten ihn gerade erst begonnen …
    Wir liefen sechs Stunden, dann machten wir eine Rast, danach liefen wir noch einmal drei Stunden.
    Über diesen ersten Tag unserer Wanderung stehen in meinem Tagebuch ganze achtzehn Zeilen, eine halbe Heftseite. Und zwar nicht, weil dieser Tag arm an Eindrücken gewesen wäre, im Gegenteil: er war einer der erstaunlichsten und bedeutendsten Tage meines Lebens. Ich war einfach sehr erschöpft und wusste nicht, was festhalten, und wie, in welcher Sprache. Das Tagebuch unterstreicht das mit seinem beredten Gestammel. »Der Altgläubigenfriedhof; das Rosenwurzufer; der Grund der urzeitlichen Meere; das Holzufer; das Ufer der käseaufschnittartigen Steine (vertikal zerklüftet); das Ufer der

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