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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Flut überspülter Strandabschnitt), überwachsen von rötlichem Moos und Gänseblümchen – unvorstellbar vielen – und Rosenwurzstauden. Die jungen Blütenstände, kurz vor dem Auf knospen, hatten eine herrliche schwachgelbe Farbe. Alik schnitt einige der grünen Spitzen mit den fleischigen Blättern ab, die gut den Durst löschen. Er grub auch einige Wurzeln aus – er hatte immer eine dabei und kaute sie, sobald er müde wurde. Beim Ausgraben irrte er sich nie: er erwischte immer junge, gesunde, saftige Wurzelstöcke von herbem Geschmack; dass ihm je ein alter und trockener oder verfaulter unterkam, habe ich nie gesehen.
    Was »das Ufer der käseaufschnittartigen Steine« betrifft, so ist hier nun wirklich restlos alles ungenau. Es war schon Abend, wir gingen am Meer entlang, genauer, an der Promojnaja-Bucht, da lagen mit einemmal diese Steine vor uns auf dem Strand. Braun, wie versengt, wie aus einer Glut hierher geraten. Sie sahen absolut nicht wie Käsescheiben aus, und erst recht hatte sie natürlich niemand zersäbelt, sie waren einfach restlos alle rissig, als hätte versengende Hitze sie spröde werden lassen und die eisigen Keile der Nacht sie aufgesprengt. Aber nicht horizontal, wie Gestein normalerweise geschichtet ist, sondern vertikal, von oben nach unten, als seien sie auf der Erde aufgeschlagen und dabei zerschellt. Vielleicht würde »das Ufer der am Boden zerschellten Steine« es besser getroffen haben, aber irgendwie fiel mir nur Käse ein, genauer, wie von einem Stück per Hand Scheiben abgeschnitten werden, und ich dachte, Hauptsache, ich behalte wenigstens das.
    Es war Abend, eine gelbe Dämmerung, Kälte. Petka war gerade »am Davonrasen«. Er konnte absolut nicht mehr, war sichtlich am Ende. Plötzlich schien er sich auszuklinken, verfiel in Schweigen und – stiefelte drauflos. Er drehte sich nicht einmal um, lief einfach immer weiter und weiter davon, marschierte uns bestimmt einen Kilometer voraus.
    In dieser Stunde erwachte in ihm der Mann.
    Und diese Steine, sie waren nichts anderes als wieder: Lehm; metamorphisierter, tatsächlich durch unvorstellbare Hitze und Druck zusammengebackener Lehm. Ich weiß nicht, wie Lehm zu Stein wird und wodurch »gebräunt«, aber damals schoss mir – ganz plötzlich – durch den Kopf, dass diese Steine auf der Erde aufgeschlagene Meteoriten seien. Der Tagesrand war nah. Das Meer war nah. Nah war sein ewiger Jodgeruch. Und der Weltraum war nah. Und auf dem Strand vor uns gab es über viele Kilometer hinweg keine anderen Spuren außer denen von Petka. Und diese Steine waren durch den Sonnenwind abgeschmolzene Meteoriten, und wir liefen über einen anderen Planeten …
    Dieser Tag birgt noch eine andere Wirklichkeit, die mit dem eigenen Ich zu vermessen, auszuloten war – die Erschöpfung: die einzelnen Phasen der Erschöpfung und die mit ihnen einhergehenden drei Lautstärkestufen der »Ich kann nicht mehr!«-Signale, mit denen der Körper das Hirn erstaunlich hartnäckig beschoss vom Augenblick unseres Anlandens an bis zu jenem Moment in der Nacht, als sich überraschenderweise herausstellte, dass all diese verzweifelten SOS-Rufe unnötig waren, denn ungeachtet aller Panik im Äther hatten wir alles vollbracht.
    Das »Ich kann nicht mehr« Nummer eins spürte ich schon am Leuchtturm. Ich glaube, hätten wir dort keine Essenspause eingelegt, ich hätte mich schmählich auf den Boden geworfen und dieses mein »Ich kann nicht mehr!« herausgebrüllt – zu deutlich waren die Erschöpfungssymptome: »Eisenhaken« in Schultern und Rücken (besonders, wenn es durch Moortundra ging), »Herzpochen im Hals« usw. Als nach ein paar Tagen unser Marsch seinen Rhythmus gefunden hatte, setzten wir jede Stunde kurz die Rucksäcke ab, hockten uns auf den Boden und scherzten, um uns von diesen Empfindungen zu erholen.
    Das »Ich kann nicht mehr« Nummer zwei ist eine wesentlich länger anhaltende Phase, in der einem im Prinzip bewusst wird, dass die Notrufe des Körpers zwar nicht grundlos sind und es durchaus wert wären, beachtet zu werden, dass man aber laufen muss, und man läuft. Wenn du in diesem Stadium allerdings irgendwo aus dem Tritt gerätst, zum Beispiel auf den Bülten hinter den anderen zurückbleibst und sie wieder einzuholen versuchst, dann geht es los. Zwei-, dreimal »Herzpochen im Hals« – und das Signal wird dringlich. Du musst unbedingt verschnaufen, brauchst eine Rast, am besten auch Tee.
    Das »Ich kann nicht mehr« Nummer drei ist ein

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