Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
fliederfarbenen Blümchen. Der Wind. Die beiden Schwäne. Petjas letzte Kraftanstrengung. Die reine Welt. Der Verlust des Wirklichkeitsgefühls. Das Empfinden, dass alles, was heute mit mir geschehen ist, unter keinen Umständen passieren konnte. Und doch ist es passiert …« Lauter Nominalsätze, die kaum einen zu Ende gedachten Gedanken ausdrücken, sondern einfach nur mehr oder minder verschwommen auf das zeigen, was sich meinen Augen eröffnet hat: »dieses«, »dieses«. Einfachste Sprachfiguren des Raumes …
Ich wusste, dass es für die Beschreibung unserer Wanderung einer anderen Sprache bedurfte als jener (innerhalb der Sprache existierenden) Sprachen, die mir mehr oder weniger bekannt waren. Ich wusste, dass eine Sprache, in der die Begriffe »Konversion« und »Konvergenz« vorkommen, schwerlich für die Beschreibung des Ufers der fliederfarbenen Blümchen taugen würde, aber einen solch starken Bruch, eine solch kindliche Hilflosigkeit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet.
»Das Ufer der fliederfarbenen Blümchen«! Das ist wirklich reines Babygebrabbel: alles ist ungenau, alles bleibt im Vagen. Selbst die Blümchen bleiben ja letztlich unbenannt, und jetzt kann ich beim besten Willen nicht mehr herausfinden, welche es waren; ich weiß nur, es waren weder Vergissmeinnicht, noch Glockenblumen, noch Enzian, sondern irgendwelche anderen, die man »fliederfarben« nennen kann. Aber welche – das weiß ich nicht.
Was verzeihlich ist. Denn das Ufer der fliederfarbenen Blümchen war der Ort, an dem mir wohl erstmals die Augen aufgetan wurden. Weil ein schwerer Rucksack nämlich blind macht. Du läufst – nimmst nichts wahr. Nur deine Schritte. Deinen Atem. Aber da versperrte uns ein kleiner Bach den Weg. Wir versuchten durchzuwaten – vergeblich. Wir folgten ihm gegen die Strömung in der Annahme, dass er flacher und schmaler werden müsse, aber von wegen: Er staute sich schon bald und wurde zwischen den Flanken der Tundra zu einem kleinen länglichen See. Und während wir da herumstapften, setzte ich den Rucksack ab – und sah …
Ein wundervoller Ort. Ein kleines grünes Tal und dieser Bach, der sein Bett verlassen hatte: unfassbar reines kaltes Wasser, und darin der Himmel – der echte, hohe Himmel, der durchs struppige Fell der Wolken lugte, und eben diese Blümchen im grünen Samt des Mooses … Sie wuchsen da überreichlich, und das verlieh diesem Ufer … Nun, das verlieh ihm ein märchenhaftes Aussehen, oder es kam mir zumindest so vor, weil mir die Augen aufgetan wurden … Und außerdem waren wir schon lange gelaufen, was unmöglich ohne Auswirkung bleiben konnte, denn es war ein Hineinwandern in die »reine Welt« – also in den Raum, wo keinerlei menschliche Gegenwart zu spüren war, nicht die geringste. Solange wir längs der Küste gelaufen waren, hatte der Müll verraten, dass es um uns her, wenn auch weit weg, eine Welt voller Menschen gab. In der Tundra bot sich die gegenteilige Empfindung: nirgends ein Mensch. Nur die Erde ringsumher, unberührt wie am siebenten Tag der Schöpfung, als Gott der Herr alles »gut« eingerichtet hatte und sich niederlegte um auszuruhen von all seinen frommen Werken. Und diese unberührte Schönheit und Weite fließt unerwartet als Kraft in dich.
Daran: an diese als Kraft empfundene Schönheit erinnere ich mich. Als ob die Schönheit eine besonders leicht, besonders süß zu atmende Luft wäre. Um Moskau herum gibt es eine derart intakte, derart ursprüngliche Schönheit nicht mehr. Deshalb ruft sie hier auch einen so mächtigen, symphonischen Eindruck hervor.
Das ist es, was in Wirklichkeit über das Ufer der fliederfarbenen Blümchen zu sagen gewesen wäre.
Doch damals vermochte ich nicht es auszudrücken. Und ich nahm alles nicht so wahr wie die unzähligen »anderen Male«, an den anderen Tagen unserer Wanderung, als ich allmählich sehen lernte und sogar Worte zu finden, um es auszudrücken. Damals aber war es der erste Tag, der allererste Tag im Schlund des Raumes, und dieser Tag war betäubend. Er war ohne Gedanken. Beinah auch ohne Gefühle. Und alles, was ich behalten habe und im Tagebuch aufzulisten vermochte, ist nicht wichtig, es sind einfach Markierungspflöcke, die das Gedächtnis hier und da in diesen delirierenden Tag eingepflanzt hat, damit es später etwas gebe, um sich daran festzuhalten und sich zu erinnern …
Beispielsweise »das Rosenwurzufer«: Es kam gleich nach dem Leuchtturm. Eine große sandige Lajda (ein flacher, bei
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