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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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eine Unendlichkeit auf dem Sand umherliegender, im Sand versinkender, kreuzweise zusammengeschobener, in sechs, sieben Schichten übereinandergeworfener Baumstämme, zwischen denen wir uns im Nebel vorwärtsarbeiteten wie inmitten sagenhafter Bastionen …
    Ich war längst außerstande, irgendetwas zu denken oder zu fühlen, dennoch gaukelte wie ein stilles Lachen eine leise Wärme in mir, weil wir nicht Opfer unseres abgeschmetterten verrückten Plans geworden waren, die Westküste über die Koschka zu erreichen, und es uns somit erspart blieb, uns durch diese seewinddurchfegte, müllübersäte leblose Wüste zu kämpfen.
    Um zwei Uhr in der Nacht hörte unter den Füßen der Sand auf und begann die Tundra und augenblicklich auch im Moos eine Geländefahrzeugspur. Sie brachte uns wie im Nu zu dem Balok der Geologen, einem Häuschen, das wie ein vom Fahrgestell heruntergehobener Eisenbahnwaggon aussah. Gebaut hatten es vor einer geraumen Weile schon die ersten Prospektoren, die auf der Insel nach Öl suchten, das aber schließlich nur im Ostteil gefunden wurde, und so stand es verlassen da. Verrostete Fässer lagen ringsumher, wohl ein halbes Hundert, Raupenkettenglieder, Bohrgestängeteile, von denen eines, einem riesigen Korkenzieher gleich, wie eingerammt in der Erde stak.
    Die Scheibe des Häuschens war zertrümmert 22 , auf dem Tisch und den Pritschen hatte sich auf einer schleimig-schwarzen, zusammengebackenen Dreckschicht Schimmel gebildet, auf dem Boden lag eine feuchte, angeschimmelte Matratze. Man muss unseren Trekkingführern Anerkennung zollen: Nicht eine Sekunde gaben sie der Enttäuschung nach, sondern trieben irgendwo zwei grünliche Glasscheiben auf und verschlossen damit im Handumdrehen das Fenster, wonach wir das verrottete Innere des Häuschens so lange abkratzten und fegten, bis alles ordentlich und sauber aussah. Schließlich entrollten wir auf den Pritschen unsere Felle, heizten den Ofen ein, streiften die verhassten Stiefel von den Füßen, kochten Kaffee und … verplauderten uns bis vier Uhr in der Früh.
    Ich hatte doch noch etwas über den See erzählen müssen. Natürlich, bedenkt man alles, was uns an diesem Tag widerfahren ist, gerade auch die Erschöpfung, und das verblassende Licht, die Feuchtigkeit, den Nebel, die seltsamen Geräusche vom Meer her, den Lehmgeruch, die unheilvollen Raubmöwen, die Dünen, das Labyrinth, das Himmelsgold, so ist leicht verständlich, warum wir dem See nicht die nötige Aufmerksamkeit zollten, den wir wie vorgesehen rechterhand liegen ließen. Leider! Wir hätten natürlich unbedingt unseren unfrohen Trott wenigstens für einen Augenblick unterbrechen und den nebelverhangenen Wasserspiegel betrachten müssen: Denn dieser namenlose See, an dem wir schweigend wie Gespenster, das Schlauchboot zwischen uns, vorüberzogen, ist eben jener See, der hundert Jahre zuvor Saxon Lake getauft wurde von ebendem Menschen, der zum unfreiwilligen Inspirator unserer Wanderung wurde – dem Schotten Aubyn Trevor-Battye.
    Trinken wir einen Schluck vom stärksten und süßesten Kaffee auf diesen Mann!
    Nehmen wir einen möglichst tiefen Zug aus der allerbesten Zigarette – jener, die am Ende eines durchwanderten Tages in der Etappe geraucht wird!
    Trevor-Battye war der erste Wissenschaftler und der erste Europäer, der Kolgujew von Nord nach Süd durchquerte, insgesamt drei Monate auf der Insel verbrachte und sich mit allen ihren damaligen Bewohnern anfreundete. Er war gewiss ein Romantiker, dieser aktive Fellow der Royal Geographical Society, der Zoological Society of London und der British Ornithologists Union, hat er sich doch als Studienobjekt diesen »trostlosen«, »wüsten«, »eisigen« Landstrich ausgesucht (alles Attribute, die der Übersetzer im Vorwort zur russischen Ausgabe von Trevor-Battyes Buch verwendet). Oder war er ruhmsüchtig und hat eine vergleichsweise einfache Gelegenheit genutzt, unter die Polarforscher eingereiht zu werden? Ich fürchte, wenn wir darüber aus heutiger Sicht urteilen, ist das Risiko groß, in schreckliche Banalität abzurutschen.
    Das 19. Jahrhundert, uns vor kurzem noch so nah, so vertraut, so verwandt, entfernt sich mit einemmal in Windeseile. Vielleicht, weil die dorthin zurückreichenden Familienbande tatsächlich abgerissen sind. Und wenn demnächst die letzten Alten sterben, die uns mit dieser Zeit verbinden, wird es genauso fern und unbegreiflich sein wie all die anderen Jahrhunderte, in denen wir uns nicht mehr wiedererkennen

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