Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
und keinen Zusammenklang mit unserem Verständnis des Lebens erkennen. Und deshalb wollen wir uns auch davor hüten, über diese so nah-ferne Zeit zu urteilen, deren Gedächtnis unerklärlicherweise in den endlosen Fernsehserien und Fortsetzungsromanen unserer feuilletonistischen Epoche weiterlebt und nur manchmal, im Traum irgendeines Jungen, wieder auflebt als eine Hoffnung, als ein Sonnenreflex auf den Mastspitzen eines Seglers in Glasgow …
    Diese Zeit war erfüllt von Größe und vom Bewusstsein der eigenen Größe. Der Glaube an den Fortschritt war so bedingungslos wie zuvor der Glaube an Gott. Symbol dieses Glaubens war der Tempel der Wissenschaft – der im Übrigen eher an ein gigantisches Museum erinnerte oder an eine riesige Bibliothek. Was nicht weiter verwunderlich ist, war er doch gerade erst im Zuge des großen Projekts der Auf klärung vollendet worden, derzufolge die Welt eine Enzyklopädie ist. In manchen Sälen roch es noch frisch nach Leere, die gefüllt werden wollte … Noch hatten die Tempelwände keinen einzigen Riss …
    Es schien, als ob die Arbeit gerade erst anfange, während sie doch im Kern bereits abgeschlossen war. Ideen haben etwas von Bäumen: Hängen die Äste voller Früchte, kommt der Herbst. Doch die Menschheit begeisterte sich noch unverdrossen für die in den Tempel gebrachten Wunderdinge. Sie strebte nach äußerster Genauigkeit und äußerster Klarheit in allem. Dem Bau des Menschen, der Maschinen, der Welt. Und Gottes.
    Alles wurde der Beschreibung unterzogen: Das 19. Jahrhundert brachte eine riesige Menge an Reiseliteratur hervor. Atlanten der Geographie und der Biologie, Tagebücher, Exkursionsberichte mit genauen Beschreibungen von Geologie, Fauna, Flora und den Gebräuchen der in den entdeckten Gebieten lebenden Menschen. Das 19. Jahrhundert bilanzierte auf originelle Weise jene über Jahrhunderte betriebene Übersetzung aller Kenntnis von der Welt in die Sprache der europäischen Wissenschaft, es schuf die globalen philosophischen und naturwissenschaftlichen Systeme: Lamarck, Darwin, Spencer, Comte. Man berauschte sich an ihnen als dem Wort, das letzte Klarheit bringt, das die Welt endgültig verständlich macht …
    Heute ist die Welt so gut erforscht, dass es keine leeren Säle im Tempel der Wissenschaft mehr gibt; so gut, dass sie halb tot ist und sie das Gedächtnis an das vormals Lebendige in zig Hunderttausenden, zig Millionen Seiten verwahrt – Seiten, die ihr einstiges Feuer verloren haben, erkaltet sind … Tot sind? Wir müssen anders auf diesen erst vor ganz kurzem errichteten erhabenen, kolossalen Tempel schauen, auf die durch seine Säle schlendernden vereinzelten Besucher, die rissig gewordenen Wände, die Wasserflecken an der Decke, die in Kriegen vom Dach heruntergeschossenen Verkörperungen der Vernunft und des Fortschritts, die bis dahin ihre Hände über die Welt hielten; auf den Bettler an der Pforte und den Trinker im Garten … Wir versuchen, etwas zu begreifen … Und begreifen … Nein, können es nicht …
    Wahrscheinlich ist nichts Entsetzliches passiert. Es geht halt einfach eine weitere Epoche zu Ende. Trevor-Battye gehörte ihr, versteht sich, noch ganz und gar an: Er ist ein verspäteter Weltentdecker, der davon träumte, sich auf seine eigene Reise zu begeben und über sie sein Buch zu schreiben.
    Längst war das Nordpolargebiet kein weißer Fleck mehr. Auf der Nordinsel von Nowaja Semlja gingen die Norweger regelmäßig der Walross- und Eisbärenjagd nach, derweil auf der Südinsel die Russen jagten; eines Tages entdeckte bei so einer Fangfahrt Elling Carlsen in der Ledjanaja-Gawan-Bucht ein seltsames verlassenes Haus, bis obenhin angefüllt mit Schnee, und wie die Jäger den Schnee durchwühlten, da stießen sie auf eine altertümliche Uhr … Hellebarden … Musketen … Annähernd zweihundertfünfundsiebzig Jahre stand sie dort, die Uhr: Das Haus entpuppte sich als Barents’ Überwinterungslager.
    Nach Carlsen untersuchte Charles Gardiner, englischer Sportler und enthusiastischer Laienarchäologe, 1876 das Winterquartier der letzten holländischen Chinaexpedition. Doch wenn Nowaja Semlja – der Schlüssel zur östlichen Arktik – Forscher wie Fangleute unverändert anzog, so blieb Kolgujew (zumindest für die Europäer) auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein ebenso dunkles geographisches Objekt wie im 16. Jahrhundert, als Willem Barents’ Schiff, die
Mercurius
, an dem Eiland vorbeisegelte, ohne auch nur seine Fahrt zu

Weitere Kostenlose Bücher