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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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gehört, laufen aber noch eine Weile längs des Priels auf und ab, als müsse sich ein geeigneter Stamm finden lassen. Anscheinend haben finstere Apathie und schwermütige Erstarrung von uns Besitz ergriffen, die bösen Geister dieses Ortes …
    Wir sind bis ans äußerste Ende der Promojnaja-Bucht vorgedrungen, weiß der Teufel, wo hier der Wattenboden endet und die richtige Küste beginnt, wo der Grund schlickrig ist und wo fest, wo enden eigentlich diese ganzen sich in alle Richtungen verzweigenden Ausläufer der Bucht, die diese finsteren Dünen in ein Labyrinth verwandeln? Gleich setzen wir über den Priel über, aber … wo sind wir dann? Weiß der Himmel. Obwohl die Sicht weit reicht: ringsumher ebene Fläche mit dunklen, grasbüschelgekrönten Sandkämmen. Irgendwo hier muss das Flüsschen Perwaja sein. Nicht zu sehen. Und etwas weiter – theoretisch – die Koschka, der Schulterpunkt der Koschka, wo sie mit der Insel verwächst, und dieser See, von dem noch zu reden sein wird und an dem wir, ihn rechterhand liegenlassend, vorübermüssen; dort ist dann das Ziel schon ganz nah – ein Häuschen, das wahrscheinlich noch nicht ganz eingestürzt ist, also: Pritschen, ein Ofen. Oder wenigstens – schlimmstenfalls – ein Dach über dem Kopf …
    Schließlich zuckt Alik wie erwachend zusammen, wühlt das Schlauchboot aus seinem Rucksack hervor. Stimmt, Bruder, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, ist schon ein verdammt übler Ort hier, und sein Geruch – nach feuchtem Lehm –, der gefällt mir gar nicht. Hier ist der Lehm nicht jener geschmeidige, von Menschenhand geknetete Stoff, den der Töpfer in vertraute Formen kleidet und in der Sonnen- oder Ofenglut brennt, hier ist der Lehm – Naturgewalt. Er birgt die ewige Kälte. Er riecht nach Tod. Lehmig riecht der Tod zweier Gänsejungen, die eine Raubmöwe auf einer graublauen Kaolinbank überrascht hat. Zerpickt sind nur die Köpfe: ausgesogen das Hirn, ausgehackt die Augen. Entwichen ist die Wärme … Die Körper sind erkaltet …
    Langsam segelt die Möwe über den gelben Wassern des Meerbusens, die das verblassende goldene Himmelslicht spiegeln. Jenseits der gelben Fläche, in einem Kilometer-Abstand von uns, erstreckt sich unter dem erkaltenden Himmel, den Horizont verbergend, ein schwarzes Band: die Koschka. Schon ganz nah. Bisweilen ist es, als hörten wir das Geräusch der Brandung …
    Nachdem wir übergesetzt haben, schleppen Alik und ich zusätzlich zu unseren Rucksäcken das aufgeblasene Boot. Wo bleibt bloß diese verdammte Perwaja? Es hat nämlich sein Gewicht, das Boot, ob zusammengelegt oder aufgeblasen. Ich sehe meine Stiefel im nässeausschwitzenden Boden, höre Aliks und meinen Atem, der dem zweier erschöpfter Tiere gleicht. Dann endlich der Fluss. Ein wassergefüllter Kanal oder Graben, könnte man meinen. Ein toter Fluss. Tote Ufer, grauer Lehm. Als ich mit dem Rucksack ins Boot steige, falle ich beinah ins Wasser: Die Erschöpfung lässt alle menschlichen Bewegungen ungeschickt werden, und ich hatte längst alle Stadien des gestrigen »Ich kann nicht mehr« durchlaufen.
    Auf der feuchten Gänselajda, die keine vierzig Zentimeter aus dem Wasser ragt, setzen wir die Rucksäcke ab. Wir sind mit unseren Kräften am Ende. »Der Raum macht einen zum Menschen …« Naja. Petka steht auf und schleppt sich vorwärts. Ziellos. Wie ein Verrückter. Er marschiert einfach ohne Rucksack drauflos. Ihm entgegen erhebt sich vom Meer her Nebel …
    Elf Uhr nachts.
    Und trotzdem lasen wir auf dieser dem Grund eines Sees gleichenden nebelüberzogenen Ebene Holz zusammen, kochten uns einen Tee stark und süß wie Wein, an dem wir uns verbrannten, und zwangen ein Stück Brot mit kaltem Büchsenfleisch in uns hinein – Fett und Zucker, Hauptsache ein kalorienreicher Brennstoff, wir brauchten Wärme. Nachdem wir uns aufgeheizt hatten, setzten wir die Rucksäcke wieder auf. Als fassten wir uns bei den Händen, hoben wir mit den Rudern das Schlauchboot auf und liefen in den Nebel hinein. Wir glaubten nicht, diesem Meereslabyrinth, das wie etwas Flüssig-Lebendiges pulsierte, aus Tidenwasser und Flüsschen oder einfach Mooren und Wiesen, entkommen zu sein.
    Aber bald – und immer häufiger – stolperten wir über meerwasserpolierte Stämme. Und schließlich eröffnete sich unserem Auge eine riesige, von angespültem Holz und Müll übersäte Nehrung. Die Koschka. Sie entschwand in unserem Rücken in die Unendlichkeit und eröffnete sich vor uns wiederum als

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