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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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papierdünn, man braucht bloß den Fuß daraufzusetzen, schon zerreißt der wunderbare Zinnoberhauch und gibt schlammige Schwärze preis. Niemand aber hat hier vor uns seine Spur hinterlassen, abgesehen von Gänsen. Die dreizehigen Abdrücke ihrer Füße auf dem feuchten Erdreich erscheinen wie Spuren kleiner Echsen aus dem Jura oder Trias. Und gleich neben unserem Feuer liegt ein kleiner See, dessen Ufer von urzeitlichem Bärlapp überwuchert ist und unter dessen Spiegel sich grüne, luftgefüllte Blasen irgendwelcher Uralgen verbergen …
    Noch gibt es keine Menschen. Noch ist das Wort nicht erklungen. Noch hat die Geschichte nicht begonnen. Die junge Welt ist noch so wunderbar frisch!
    Und diese Empfindung ist dermaßen stark, dass man vor Glück loslachen möchte: »Wir sind allein! Wie gut, wir sind allein!«
    Adams Gefühl im Paradies. Aber, Dummkopf, begreifst du den Schrecken der Einsamkeit, die du herbeirufst?
    Nein, natürlich nicht. Natürlich ist dieser Dummkopf, also ich, nicht imstande, all die grauenerregenden Folgen dieses verrückten Drangs zu begreifen, er, also ich, kann sich nicht vorstellen, wie gleichgültig diese geologische Erhabenheit dem Menschen gegenüber ist und was ihn der Zusammenstoß mit dieser jungfräulichen Erde kostet. Im Übrigen – welcher Zusammenstoß? Die Erde breitete sich einfach vor uns aus: in majestätischer Pracht und teilnahmslos gegenüber unserem Gekrabbel. Und wir … Tja, wir täuschten uns tatsächlich in der Richtung und verausgabten dabei unsere Kräfte, denn wir quälten uns beinah eine geschlagene Stunde entgegen unserer Zielrichtung um einen großen Einschnitt der Promojnaja-Bucht herum, bis wir endlich eine vergleichsweise enge und mit unserem Bootchen gefahrlos passierbare Stelle fanden. Die Flut hatte eingesetzt. Die Sandbank, auf der wir standen, musste bald von Wasser überspült sein. Ich tauchte meine Finger ein, leckte: die Hand war rau und salzig, wie ein Plattfisch. Petja und Tolik pumpten hastig unser Boot auf mit einer Fußpumpe, die wie ein halbierter Gummiball aussah.
    Tolik setzte mich als Ersten über und jagte zurück, um unser Gepäck zu holen. Mit hochgeschlagenen Stulpen lief ich ihm, damit es schneller ging, im Wasser weit entgegen, an die dreißig Meter, nahm ihm die Rucksäcke ab, schleppte sie aufs Trockene; als meiner an der Reihe war, kriegte ich ihn kaum noch aufs Steilufer gewuchtet: versagende Arme, zitternde Hände. Ich rauchte, machte es Alik nach und kaute eine Wurzel – umsonst: Als ich von den andern ein Foto machen will, schlottert mir die Kamera zwischen den Fingern. Wir trockneten unser Schlauchboot, stopften es in Toliks Rucksack und brachen auf. Ich sagte keinem, dass ich ausgelaugt war, aber plötzlich begriff ich, dass vor uns nicht noch zehn oder fünfzehn Kilometer lagen, wie ich aus Dummheit immer noch rechnete, sondern dass die gesamte Strecke, egal wie lang sie wäre: dass sie vom Anfang bis zum Ende der Weg zur Rettung ist, sprich zum Geologenbalok! Der Körper will dort hin, will dort mit der selben Vehemenz hin, mit der sich die Erschöpfungssignale melden, das Herzpochen in Hals und Kopf, Kräfteabbau, die Verwandlung des Körpers in ein Stück feuchter Seife … Der erschöpfte Körper verlangte nach Leben, Leben um jeden Preis. Nach vollgültiger Erholung, Essen, Schlaf.
    Die Zeit war versunken, ihre Stelle hatte wieder der Schmerz in Rücken und Schultern eingenommen. Bestimmt war es sieben oder acht Uhr. Es schien nicht dunkel zu werden. Aber als Alik am Wasser ein einsames Gänseküken fing und das verwaiste Tier mitleidig an seiner Brust wärmte, da fotografierte ich die beiden doch – und auf der Aufnahme ist zu sehen, dass die Insel bereits in tiefe Dämmerung getaucht war: Das trübe Licht verschleiert die Farben, alles ist in jene Ocker- und Umbratöne versunken, die den Bildhintergrund der asketischen nordrussischen Ikonen dominieren …
    Der Raum aber dachte nicht daran uns freizugeben: wieder ein Priel, kalt und zäh dahinfließend, der uns den Weg versperrte. Rüberspucken wäre wahrscheinlich gegangen, aber mit Stiefeln an den Füßen und geschultertem Rucksack rüberwaten oder -springen – ausgeschlossen. Alik und Tolik machen sich am Ufer auf die Suche nach einem Baumstamm, der hinüberreichen könnte; ich habe das Gefühl, wir vergeuden bloß unsere Zeit – jeder Stamm wäre zu kurz, wenn auch nur um einen halben Meter.
    »Wir müssen das Boot aufpumpen …«
    Alik und Tolik haben es

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