Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
»Diener und Faktotum« zur Seite stand; die Mannschaft wurde von zwei Nenzen gebildet, Onask und Timofej (»Timo Fé«), denen seherische Fähigkeiten zugeschrieben wurden, insbesondere die Gabe, Schicksalszeichen zu deuten …
Aber jetzt haben wir vorgegriffen und das Ende der Geschichte verraten, ohne den Anfang erzählt zu haben, der, muss man sagen, nichts dergleichen verhieß. Die
Saxon
verließ am 2. Juni 1894 Peterhead und nahm, nachdem sie im nordschwedischen Vardö noch einmal Kohle gebunkert hatte, bereits zehn Tage später Kurs auf Kolgujew. Nach weiteren drei Tagen, am 15. Juni, sichteten die Reisenden um zwei Uhr mittags »lange, niedrige Nebelwolken, die augenscheinlich eine Landmasse bedeckten. Das konnte nur die Insel Kolgujew sein … Selbstverständlich sagten die Matrosen ihrer Gewohnheit gemäß fortwährend, sie sähen Klippen, Berge usw. Aber ich denke, es wurde beinah sechs Uhr, ehe wir wirklich mit absoluter Sicherheit Land ausmachten, obgleich es selbst dann noch unter Nebel verborgen lag.«
Schließlich kam die ersehnte Stunde, da Trevor-Battye endlich die »Insel der Gesegneten« erblickte, die Insel seiner Träume!
»Es war zweifellos die erbärmlichste und unwirtlichste Küste, die man sich vorzustellen vermag. In diesen Breitengraden ist mit Bäumen nicht zu rechnen, doch für ihr Fehlen entschädigen oftmals mehr als genug landschaftliche Schönheiten – herrliche Gletscher oder strenge Felsbastionen, über denen Myriaden von Seevögeln kreisen wie treibender Schnee. Nichts dergleichen hier. Vor uns erstreckte sich nichts als eine lange niedrige Linie planer Einförmigkeit … Schnee, der sich in Streifen die Hänge hinab und über den Strand bis zum Randeis der See zog, dazwischen Sandoder Lehmwände mit dunkleren, von Schmelzwässern oder Murgängen gegrabenen Rinnen.«
Diese Zeilen voll herber Enttäuschung bestürzen mich beinah, so vertraut ist mir das von dieser trostlosen Landschaft hervorgerufene Gefühl, allzu bekannt sind mir die das Herz beschleichende Melancholie, der aufflammende Zweifel:
Dafür
also sind wir übers Meer gefahren?!
Ich bin voller Mitgefühl. Ich könnte meine Zustimmung laut herausbrüllen, klänge sie nicht zu dumm, ein Jahrhundert, nachdem Trevor-Battye die Schwelle dieser von einer Spitzenborte aus Packeis umrahmten winzigen Feste überschritten hat und auf ihrer grenzenlosen Ebene hinter dem Horizont verschwand, um sich mit Kopf und Verstand hineinzuvertiefen und von dort seinen Schatz zurückzubringen, sein Buch. Letztendlich haben wir keine große Wahl. Wir müssen den Schatz aus dem gewinnen, was uns das Schicksal nun einmal zuspielt – sei es das elende Los eines Derwischs oder das Glück, das sich mit dem Wort »Sesam öffne dich« auftut, oder ein riesiger Torf klumpen in den seichten Gewässern der Barentssee (denn nichts anderes ist Kolgujew genau genommen) … Andernfalls bleibt nur, ganz und gar überflüssige Rechtfertigungen ins Buch des Unverwirklichten zu schreiben …
Die Engländer hatten eindeutig wenig Glück: Der Sommer des Jahres 1894 war einer jener Sommer, in denen von einer schwergehenden See mächtige Eisschollen aus der Karastraße in die Barentssee ausgeworfen werden. Setzen diese riesigen grünlichen Eisblöcke im Flachwasser vor Kolgujew auf Grund auf, schweißt eine bittere Kälte sie rund um die Insel zusammen. Den ganzen Sommer über herrscht dann feuchtkühle Witterung, bestenfalls gibt es im Inselinnern ein paar warme Tage – aber über der Küste hängen auch da Nebel und Regen.
1894 glich das Flachwasser um Kolgujew einem gefrorenen See mit einem hineinversenkten Eisberg. Die einzige Stelle, wo man sicher ankern konnte und wo seit jeher die Pomoren anlandeten, war Stanowoj Scharok (dieser Name ist eigentlich die Bezeichnung für einen kleinen Kanal im Flachwasser, durch den man bis zu einer Landungsstelle nahe der Insel gelangen kann); wegen des Eises war dieser Ankerplatz für die
Saxon
aber nicht zugänglich. Zudem trieb von Osten her weiteres Meereis heran … Die Steamyacht drehte ab, schlug Kurs nach Nordwest ein und begann die Insel längs der Koschka im Uhrzeigersinn zu umrunden. Bei Maximow heißt es, in den Flüssen Kriwaja und Gussinaja gebe es bequeme Ankerplätze, und auch wenn Professor Saweljew das Gegenteil schreibt – den Reisenden blieb nichts anderes übrig, als sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Schließlich brach die Nacht an. Eine ebensolche Nacht, nur ein wenig heller, wie jene,
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