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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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»Schlafnest« bauten: zwei Kuhlen im Sand, mit dem Aushub als Brustwehr gegen den Wind. Später entdeckten sie, dass die Socken zum Wechseln als Handschuhe taugten und das Unbehagliche einer Nacht unter freiem Himmel bei schlechter Bekleidung und fehlendem Schutz »stark gemildert wird, wenn man mit dem Kopf zum Wind schläft. Denn der Rücken leidet am meisten.«
    Eine kraftvolle Beschreibung, Sir.
    Sie konnten sich nicht aufwärmen, weil es Ihnen nicht gelang, Feuer zu machen. Begreiflich: In der Tundra gibt es kein Holz, und höchstens ein Nenze vermag mit den krummen, trockenen Ästchen der in den Talkesseln wachsenden Zwergweiden ein Feuer zu unterhalten. Das ewige Leiden unter der Kälte veranlasste Sie, erneut Ihren Plan zu ändern und ein wenig mehr nach Osten zu laufen, Richtung Meer. »Treibholz, Treibholz um jeden Preis, das war unser allererstes Ziel.« Besser lässt sich das nicht sagen, Sir, und natürlich ist jeder Entschluss, der unter dem Einfluss einer starken Empfindung gefasst wird – und das ewige Leiden unter der Kälte ist wahrlich eine der stärksten menschlichen Empfindungen –, absolut richtig. Besonders, wenn als einzige Wärmequelle ein Spiritusbrenner dient, und die einzige regelmäßig eingenommene warme Mahlzeit in einem Schluck Kakao besteht, der auf diesem Flämmchen zubereitet wurde.
    Ich habe Ihre Tagesration genau studiert, Sir: Um vier Uhr morgens je einen Zwieback und eine getrocknete Feige, um sieben Uhr ein Frühstück aus etwas Büchsenfleisch, zum Mittagessen um 15 Uhr 30 »aßen wir jeder einen mit Liebig’s Fleischextrakt bestreuten Zwieback und eine rohe Scheibe Speck, dazu tranken wir Schneewasser«, und um zehn Uhr abends schließlich: »Nachdem wir eine Scheibe rohen Speck und einen Zwieback gegessen hatten, kochten wir uns etwas Kakao.«
    Ich schwöre Ihnen, Sir, bei so einer Ration wären wir krepiert.
    Am vierten Marschtag bekam Hyland Fieber. Nachts klapperten ihm die Zähne. »Ich warf einen dünnen Mantel über ihn – den einzigen, den ich entbehren konnte –, packte ihn rundherum mit Moos ein und machte mich den Hügel hinan zu einem Gang auf.«
    Kolgujew, Sir, wächst rasant an, sobald man die Insel betritt; darauf waren weder Sie noch wir vorbereitet. Und hätten wir nicht unsere Trekkingführer gehabt, die uns hinter sich herzogen wie Rentiere einen Schlitten, so hätten wir diese sich kaugummiartig dehnenden Entfernungen trotz unserer guten Karte nicht bewältigt …
    Einmal erblickten die beiden Forschungsreisenden nach dem Frühstück plötzlich in der Ferne Berge, die aussahen »als könnten sie wenigstens 1000 Fuß hoch sein. Aber wir hatten in diesem eigenartigen Land längst gelernt, der Gewissheit unserer Sinneswahrnehmung zu misstrauen.« Einer nach dem anderen zerplatzen die Punkte von Trevor-Battyes Plan und weichen der trügerischen Logik des Traumes oder der Sinnestäuschung: Der bequeme Weg über die »Hochebene« erweist sich als vollkommen ungangbar, weil das Plateau von unüberwindlichen, schneegefüllten Schluchten zerschnitten ist, an deren Grund sich außerdem noch Schmelzwasser staut. Ende Juni beginnt der Frühling, die Flüsse schwellen an und werden unpassierbar, der Hund versinkt im breiigen Schneematsch und kommt nur mit knapper Not wieder frei … Überall zwitschert und gakt es, alles ist voller Vögel – aber was hat es für einen Sinn – lässt sich eine Gans vielleicht über der Flamme eines Spiritusbrenners braten? In der Nacht dieses vierten Marschtages gelingt es Trevor-Battye erstmals, ein Feuer zu entfachen, indem er Moos mit Methylalkohol übergießt. Sie garen darüber ein Schneehuhn, ohne es gerupft zu haben. Aber schon am Morgen darauf geht der Methylalkohol mit der Zubereitung des Frühstücks zu Ende …
    Die Rettung kommt mit der Plötzlichkeit des Todes: Am Abend des sechsten Tages entdecken die beiden beim Blick durch das Fernrohr »einen autochthonen Tschum«. Sie laufen auf ihn zu, über Stunden, obwohl sie ihn alsbald wieder aus den Augen verlieren und sich fragen, ob die Insel ihnen erneut einen üblen Schabernack gespielt, ihnen wieder eine Luftspiegelung vorgegaukelt hat, aber dann, um ein Uhr in der Nacht, finden sie sich plötzlich inmitten einer riesigen Rentierherde wieder – es müssen also Menschen in der Nähe sein, nur: in welcher Richtung, das können sie nach all den Stunden, die sie über Hügel und durch Schluchten gelaufen sind, nicht mehr sagen. Erschöpft sinken sie zu Boden.
    Und genau

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