Die Insel - Roman
ihnen - vermutlich Kimberly - wäre dann wohl heruntergeklettert und hätte nach
mir gesehen. Kann sein, dass sie mich für tot gehalten und liegen gelassen hat.
Möglich war das, aber ziemlich unwahrscheinlich.
Kimberly war nicht dumm. Sie hätte bestimmt erkannt, dass ich noch am Leben war.
Als ich an Kimberly dachte, fiel mir ein, wie ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hatte das Seil in der Hand gehabt und war dabei gewesen, hinunter in die Schlucht zu klettern.
Jetzt war sie nicht mehr hier unten, das hatte ich inzwischen festgestellt. Außer mir und der Leiche befand sich niemand in der Schlucht. Obwohl ich das wusste, sah ich mich noch einmal ganz genau um. Keine Spur von Kimberly oder sonst jemandem.
Wahrscheinlich war sie an dem Seil wieder hochgeklettert und hatte den anderen geholfen.
Ohne Erfolg, wie ich annehmen musste.
Bevor ich bewusstlos geworden war, hatte ich noch gesehen, wie Wesley sich auf Connie gestürzt hatte. Vermutlich hatte er sie kurz darauf mit seinen Macheten in Stücke gehauen. Und dann hatten er und Thelma kurzen Prozess mit Billie gemacht.
Somit hätte es Kimberly, als sie wieder aus der Schlucht herauskam, allein mit zwei Gegnern aufnehmen müssen.
Sie wäre durchaus in der Lage gewesen, einen solchen Kampf zu gewinnen. Stark genug war sie.
Aber wenn sie gewonnen hatte, wo war sie dann jetzt? Und warum hatte sie mich hier unten gelassen?
Nein, sie sind tot , dachte ich. Alle drei. Billie, Kimberly und Connie. Tot.
Danach wäre ich fast verrückt geworden, wenn ich mich nicht an einen winzigen Strohhalm der Hoffnung hätte
klammern können: dass sie den Kampf vielleicht doch gewonnen, mich aber für tot gehalten und zurückgelassen hatten. Wenn ich es schaffte, aus dieser Schlucht heraus und hinunter zum Lager zu kommen, würde ich sie dort antreffen. Lebendig und bei bester Gesundheit.
Meine Güte, würden die sich freuen, mich zu sehen!
Und ich erst!
Was für ein Fest wir feiern würden!
Aber ich wusste, dass sie tot waren.
Manchmal ist es nicht das Schlechteste, sich etwas vorzumachen. Anstatt mich in hoffnungslose Gedanken zu verstricken, musste ich zusehen, dass ich aus dieser Schlucht herauskam.
Mit Mühe gelang es mir, mich aufzurappeln. Und dann ging ich erst einmal die ganze Schlucht ab und schaute in alle dunklen Winkel und hinter jeden Busch, ob Kimberly nicht vielleicht doch dort war.
Ich fand niemanden.
Ich fand auch keine Köpfe oder anderen Körperteile.
Ich fand überhaupt nichts.
Nicht einmal das Seil. Nach dem Kampf musste es jemand hinaufgezogen haben. (Wieso sollte man auch ein völlig intaktes Seil zurücklassen?)
Es hätte mir sowieso nicht viel genützt, auch wenn es noch herabgehangen hätte. Ich konnte mich kaum richtig auf den Beinen halten, geschweige denn an einem Seil eine kerzengerade Felswand hinaufklettern.
Trotzdem versuchte ich es ohne Seil.
Zum Glück schaffte ich es nie allzu hoch hinauf, denn ich fiel ständig wieder herunter.
Insgesamt dreimal.
Dann ging ich ans offene Ende der Schlucht.
Der Abgrund lag in tiefer Dunkelheit, aber ich konnte die Wipfel von Bäumen im Himmel über mir sehen. Wenn ich mich unterhalb der Baumwipfel befand, konnte der Abgrund nicht allzu tief sein.
Vermutlich würde ich einen Sprung nach unten relativ unbeschadet überleben.
Mehr wollte ich nicht wissen.
Ich ging an den Rand der Felsplatte und versuchte, mich daran hinab zu lassen. Dabei stützte ich mich mit beiden Händen ab wie Kimberly, als sie mich gebeten hatte, ihr das Schweizer Messer aus dem Höschen zu ziehen.
Wo war das Messer eigentlich?
Bevor mir schwarz vor Augen geworden war, hatte ich es noch in der Hand gehabt.
Hatte ich es vielleicht im letzten Augenblick noch in eine meiner Hosentaschen gesteckt?
In einer der hinteren konnte es nicht sein, soviel war klar. Ich hatte so lange auf dem Rücken gelegen, dass ich es bestimmt irgendwann einmal gespürt hätte. Und in den vorderen Taschen war es wohl auch nicht, denn dort hatte ich das Rasiermesser, Andrews Feuerzeug, Billies kleine Tube mit Sonnencreme und ein Päckchen mit geräuchertem Fisch. Jetzt, wo ich mit durchgedrückten Armen an der Felskante hing, spürte ich, wie all diese Dinge an meine Oberschenkel gepresst wurden.
Ein Taschenmesser spürte ich nicht.
Das hatte ich auch nicht erwartet.
Wahrscheinlich lag es irgendwo am Boden der Schlucht. Konnte ja sein, dass ich es immer noch in der Hand gehabt hatte, als man mich hinunterwarf.
Ich stemmte mich
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