Die Insel und ich
der Wetterbericht 25 Zentimeter Schnee verspricht, erzählen wir uns immer noch tapfer von andern Jahren, in denen die Kapuzinerkresse den ganzen Winter hindurch blühte.
Ich erinnere mich, wie erstaunt ich war, als ich in jenem Winter um zehn Uhr morgens das Büro verließ, um auf der andern Seite der Straße eine Tasse Kaffee zu trinken, und entdecken mußte, daß es sehr stark schneite: kleine trockene Flocken, die mein Haar bepuderten und noch nicht geschmolzen waren, als ich zwischen den Kaffeemaschinen in den großen Spiegel schaute.
Gegen Mittag lag der Schnee bereits zehn Zentimeter hoch auf allen Bürgersteigen der Geschäftsviertel; das Radio sprach von fünfzehn Zentimetern in den Vorstädten. Im Büro telefonierte jeder aufgeregt nach Hause und hatte von zwanzig und gar fünfundzwanzig Zentimeter Schnee, steckengebliebenen Autos und dem Einstellen des Autobusverkehrs zu berichten. Ich versuchte die Russells anzurufen – die einzigen Nachbarn in unserer Bucht, die gleich uns über Winter draußen blieben – um sie zu bitten, Joan und Anne mitzuteilen, sie sollten im Haus bleiben, bis Don käme. Aber das Telefonfräulein sagte, die Verbindung sei abgerissen. Von Zeit zu Zeit trat ich ans Fenster und sah hinaus, wo dichtes Gestöber von Luxseifenflocken den Mittag in frühe Dämmerung verwandelt hatte. Die Dächer der Autos trugen schon spitze Schneezipfelmützen, die der Wind zu bizarren Formen geweht hatte.
Um drei Uhr verkündete der Chef widerstrebend, daß er das Büro schlösse. Er sagte, daß die meisten Stadt-Autobusse schon den Verkehr eingestellt hätten, und viele von uns würden zu Fuß gehen müssen. Auf einmal herrschte die reinste Kriegserklärungs-Stimmung, selbst bei denen, die sich immer mit der Firma gut stellen wollten und sogar an Halbfeiertagen ins Büro kamen. Jeder zog hastig seinen Mantel an und eilte hinaus. Der Wind schien geradewegs von einem Gletscher herzublasen, winselte durch die Seitenstraßen und blies einem Arme voll körnigen Schnees ins Gesicht, so daß einem bei jeder Straßenkreuzung die Augen überliefen. Alle strebten mit gesenktem Kopf und fest in die Mäntel gewickelt voran.
Als ich bei der Haltestelle meines Busses ankam, der zur Fähre geht, standen bereits die meisten Mitfahrenden, die auf Vashon wohnten, an der zugigen Straßenecke. Anscheinend hatten alle Büros in Seattle früh geschlossen. Wir drängten uns in den engen Torweg eines Möbelgeschäfts, und ich hörte, daß bei Schneefällen meistens das Licht in Vashon versagt, daß das Telefon bereits nicht mehr funktioniere, und so würde es wochenlang bleiben, daß die Fährboote nicht mehr fahren würden, daß es wie ein Riesenschneefall aussähe, daß so große Schneefälle stets Erdrutsche an den Abhängen verursachten, daß solch starker Wind bestimmt eine Menge Ufermauern demolieren würde, daß sie hofften, die Lebensmittelgeschäfte – fünf waren es bloß für die ganze Insel – hätten genügend Vorräte eingelagert, denn es sähe ganz so aus, als würden wir lange vom Festland abgeschnitten sein.
Ich wurde ganz aufgeregt vor Sorge und Angst. Wenn ich nun nicht nach Hause kam? Wenn die armen kleinen Mädchen allein drüben bleiben mußten? Ich überschlug in Gedanken unsre Lebensmittelvorräte, aber mir fielen nur eine Kiste Hundefutter, eine halbe Kiste Katzenfutter und drei Päckchen Zigaretten ein. Ich mußte an Bilder von Schweizer Familien denken, die ihre lieben Angehörigen aus dem Lawinenschnee ausgruben. Ich überlegte, ob Zigarettenrauchen schädlich sei für Kinder. Den ganzen Tag nichts zu tun und nichts zu essen! Ich fragte mich, wo Don wohl sein könnte. Ich sah unsre riesigen Tannen, schneebeladen, und unten im Haus zwei verhungerte, ausgemergelte Mädchen, die vor einem Feuer kauerten, das sie aus den letzten Stuhlbeinen angezündet hatten.
Dann erschien der Autobus. Wir quetschten uns alle hinein, und als wir an der Landestelle ankamen, hörten wir, daß der Wind die Fähre gegen den Steg geschlagen habe, so daß sie nicht anlegen könne, sondern von einer andern Landebrücke in Seattle abführe. Wir fuhren zu dem andern Landesteg, wo schon viele Autos warteten, doch der Bus hatte Vorrecht und fuhr dicht ans Wasser. Weit und breit auf dem stürmischen Gewässer war keine Fähre in Sicht. Ich kletterte aus dem Bus, ging die Reihe der wartenden Autos entlang und sprach mit Menschen, die ich kannte, und mit solchen, die ich nicht kannte, denn Not reißt manche Schranke
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