Die Insel und ich
nieder.
Ich ging von Wagen zu Wagen und hörte, daß bei großen Schneefällen in Vashon das Licht versagt, das Telefon schon nicht mehr funktioniere, daß die Fährboote wahrscheinlich nicht mehr verkehren würden nach dieser Überfahrt, falls sie diese überhaupt schaffen würden, ob ich gesehen hätte, wie hoch die Wellen gingen, sie seien riesig, sie würden draußen im Sund noch viel, viel höher sein, da müßte man wirklich befürchten, ob die Fährboote auch noch seetüchtig seien, nachdem sie in San Franzisko bereits vor Jahren abgestoßen worden wären …
Um acht Uhr endlich kam die Fähre. Die Wellen waren riesig, die Fähre stöhnte, ächzte und knarrte schmerzlich. Im kleinen Restaurant unten rutschten die Kaffeetassen von der Bar, und eine ganz normal aussehende Frau brach in Tränen aus und schluchzte: «Wir schaffen’s nicht! Wir schaffen’s bestimmt nicht und gehen alle unter!»
Wir landeten gegen halb zehn in Vashon. Im Laden sagten sie zu mir und Bob Russell, der Fußpfad sei unpassierbar, wir müßten am Strand entlang gehen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde war das Meer uns diesmal hold gesinnt: es war gerade Ebbe. Wir brachen auf. Den Wind hatten wir im Rücken, aber auf dem steinigen Strand ging es sich wie auf gefrorenen Billardkugeln, und im Schneegestöber waren unsre Taschenlampen ohnmächtig. Wir brauchten fast eine Stunde bis zu Bobs Landzunge. Er wollte, daß ich zu ihnen ginge, um mich ein wenig aufzuwärmen und zu erholen, aber ich machte mir wegen der Kinder zu große Sorgen. Ich stampfte weiter. Meine Beine – die in Nylonstrümpfen steckten – waren wie erstarrt. Mein Gesicht brannte, als hätte ich es mit Sandpapier abgerieben. Ich erkannte unsre Ufermauer, aber der Weg vom Wasser bis zum Haus hinauf war völlig unkenntlich.
Ich kroch auf Händen und Knien dort entlang, wo ich den Weg vermutete. Als ich an die Küchentür kam, wollten Don und die Kinder gerade die Treppe hinuntergehen. Sie halfen mir auf die Füße, schoben mich in die Küche und flößten mir bei Kerzenlicht einen tüchtigen Schluck Whisky ein.
«Der Lichtstrom versagt, kein Telefon, und alle Wasserrohre eingefroren», verkündete Don strahlend. «Die Schule ist geschlossen», jubelte Anne. «Vielleicht den ganzen Winter über!»
«Was für ein toller Schnee, nicht?» fragte Joan.
Zwei Wochen lang waren wir eingeschneit. Zuerst war ich froh darüber, weil ich nicht zur Arbeit in die Stadt fahren mußte und bei meiner Familie bleiben konnte. Anne war selig, weil sie nicht zur Schule gehen mußte, Joan war wie toll wegen des Schnees, und Don machte es einen Heidenspaß, Wasser vom Brunnen und Holz vom Strand heraufzuholen.
Das war am ersten Tag. Am zweiten Tag verblaßte die Fröhlichkeit etwas. Es mußte bei Kerzenlicht und ohne elektrischen Herd auf dem Müllverbrenner gekocht werden. Don sprang nicht mehr so munter auf die Füße, wenn ich Holz rief, und die Mädchen begannen sich zu zanken, kaum schlugen sie morgens die Augen auf. Abends nickte ich unter folgender Schlummermelodie ein: «Mommy, Joan hat eine Maus gefangen (oder eine Fliege oder eine Spinne) und will sie mir ins Bett tun! Verbiet’s ihr!» und: «Ruhe! Könnt ihr denn nicht endlich Ruhe geben? Betty, sag ihnen, sie sollen still sein!»
Am sechsten Tage besann ich mich, was für himmlische Pläne ich eigentlich für die Zeit gemacht hatte, in der ich nicht mehr ins Büro gehen würde. Mit ‹himmlisch› hatte ich gewiß nicht kochen, Geschirr spülen, waschen, stopfen, Bettenmachen, Streit schlichten, Holz tragen und Böden fegen gemeint. Ich entsann mich schwach, daß ich von langen Abenden vor einem lodernden Kaminfeuer geträumt hatte, wenn jeder von uns eine Rolle aus Shakespeare lesen sollte – wie wir’s damals getan hatten, als Papa noch lebte – oder daß ich Grammophon spielen und Teppiche weben wollte.
Das Dümmste war natürlich die Sache mit dem Holz. Dons Einstellung zum Holzvorrat war der einer Löwenmutter, die ihre Jungen verteidigt. Wenn ich mehr als einen Span und zwei Stöckchen auf einmal nahm, stöhnte er schon über Verschwendung und erteilte Lektionen über Einteilung und weise Vorausschau. Der Strand war natürlich leer wie ein Teller – die Flut spülte kein Holz an, nicht mal Seegras.
Die zweite Sorge war die Beleuchtung. Wir hatten eine Lampe und eine Laterne für Petroleum, doch kein Petroleum. Wir hatten eine ganze Menge Kerzen, hatten aber die Erfahrung machen müssen, daß ein Docht zu
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