Die Insel und ich
Nacht bleiben wollte. Er war eben an Halbwüchsige nicht gewöhnt – aber wer war das schon?
Die beiden Mädchen wurden also in Regenhäute und Südwester und Galoschen verpackt und machten sich auf den Weg zum Falkennest. Es war gerade Flut, daher gingen wir den Fußpfad, doch Don versprach ihnen, sie um halb zwölf mit dem Wagen abzuholen. Wir hofften, daß dann schon Ebbe war. Ein Baum, eine mächtige Erle, war quer über den Pfad gefallen, und weiterhin brauste das Wasser im Bergbach wie ein Wasserfall. Wir trennten uns am Tor von Anne und Joan (auf Annes Bitten hin, obwohl die Auffahrt fast eine Meile lang war). Don wollte sofort umkehren, aber ich bestand darauf, so lange zu warten, bis wir ihre Taschenlampen am Eingangsportal aufblitzen sehen konnten. Hinter den wild wehenden Zweigen sah das von oben bis unten erhellte Haus wirklich sturmumtost aus.
Als Don und ich wieder zu Hause waren, machten wir uns ein helles Kaminfeuer, tranken Whisky und legten schöne Grammophonplatten auf. Gegen halb zwölf schlug ich vor, sie abzuholen. Aber Don winkte ab, ich solle mich nur nicht ängstigen. Er legte eine neue Platte auf. Um Mitternacht rief Anne an. Sie bat uns, erst eine halbe Stunde später zu kommen, da sie gerade beim Essen seien und sich herrlich amüsierten.
Das Dankfest im November war dann wieder wunderschön. Meine ganze Familie erschien. Wir waren fünfzehn, hatten zwei Truthühner (eines hatte Mary spendiert), und das Wetter war prächtig, und allen gefiel unser Haus, und jeder fand, was wir für Glückspilze seien, auf einer Insel zu wohnen, so daß meine Schwester Alison und ihr Mann sich ein großes altes Haus in Reichweite von uns (falls man wie eine Ziege klettern konnte), erstanden, und mein Bruder Cleve kaufte ein altes Häuschen mit etwas Land und einem Eisschrank auf der Küchenveranda, ebenfalls in Reichweite von uns, wenn man eine Ziege war und obendrein einen Wagen hatte.
Dann kam Weihnachten. Oh, wie ich mich freute, daß wir auf dem Lande wohnten, wo man sich nicht über die gräßliche Industrialisierung des schönen Festes zu ärgern brauchte! Wir wollten ein echtes Christfest feiern, schlicht und altmodisch, wie es sich gehört.
«Wir wollen all unsere Geschenke selbst anfertigen, und wir werden den größten Weihnachtsbaum haben, den wir je hatten, und wir wollen ihn auf unserm eigenen Grund und Boden schlagen», erklärte ich meiner Familie, die auffallend wenig Begeisterung an den Tag legte. Ich dagegen hörte schon den hellen Klang der Axt in der frostklaren Winterluft und sah die Kinder mit blanken Augen danebenstehen, während ich vielleicht ein altmodisches Weihnachtslied summte. Natürlich dachte ich auch an Mohnkapseln, Ketten aus Moosbeeren und an vergoldete Nüsse.
Arme jammerte: «Oh, und gehn wir denn Weihnachten gar nicht in die Stadt? Ich hab’s schon allen in der Schule erzählt!»
Joan fragte: «Was meinst du denn damit, daß wir selbst Geschenke basteln sollen? Etwa so scheußliche kleine Kalender wie damals in der Unterstufe?»
«Ich will bestimmt keinen», rief Anne.
Don fragte: «Ist es wirklich dein Ernst, daß wir den Weihnachtsbaum auf unserm Land schlagen sollen?»
«Natürlich», erwiderte ich. «Das ist ja einer der Hauptvorteile, wenn man auf dem Lande lebt. Ich würde mir ja wie eine Idiotin Vorkommen, wenn ich den Kollegen im Büro erzählen müßte, wir hätten unsern Weihnachtsbaum gekauft !»
«Na, dann überleg dir mal schon, wie du eine Erle ohne Blätter weihnachtlich schmücken willst!» sagte Don.
«Was?» rief ich. «Hast du die großen Tannen hinter unserm Haus vergessen?»
«Über ein Meter Durchmesser ist selbst für deinen Geschmack ein bißchen übertrieben, nicht?»
«Oh, ich meinte nicht gerade die großen. Aber in der Nähe müssen sich doch ein paar Tännlinge ausgesät haben.»
Beide Mädchen lachten laut.
«Ich wette», fuhr ich fort, «daß ich einen schönen Weihnachtsbaum auf unserm Land finden kann!»
«Beim Licht einer Taschenlampe?» fragte Joan. «Wenn du morgens weggehst, ist es dunkel, und wenn du wiederkommst, auch.»
«Ich werde ihn am Wochenende suchen», sagte ich.
Das nächste Wochenende regnete es zu stark, das übernächste auch. Da aber Weihnachten auf den folgenden Freitag fiel, mußten wir trotz des Regens hinaus. Wir gingen und gingen den Strand entlang, bis wir fast gegenüber von Tacoma waren. Wir fanden unbebaute Grundstücke in Mengen, und alle waren dicht bestanden mit Erlen, Ahorn, Syringen
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