Die Insel und ich
alles gemeinsam mache und sich täglich sehe. Das stimmt ganz und gar nicht, wenigstens nicht bei denen, die das ganze Jahr hindurch auf der Insel wohnen. Bei den Sommerfrischlern ist es eine andere Sache. Aber die haben ja auch verkehrte Ansichten von unsern Wintern. Sie sehen sich tagein, tagaus, ja, sie kleben geradezu zusammen, wie eine Bekannte es neulich ausdrückte. Wir andern aber, wir leben Wochen, Monate, selbst Jahre auf der gleichen Insel, denken einer an den andern, beabsichtigen, einander Besuche abzustatten, kommen aber nie dazu, und sehen tun wir uns höchstens mal, wenn wir zufällig das gleiche Fährboot benutzen.
Neulich traf ich auf der Fähre eine Frau, die ich eigentlich zu meinen sehr guten Bekannten rechne. «Oh», rief ich, «da hast du ja auch das neue Baby bei dir! Das wollt ich mir ja längst einmal ansehen!»
Sie lachte: «Betty, du meinst sicher Mary. Die hatte gestern ihren ersten Schultag. Dies hier ist Johnny, und vom Vorhandensein Larrys scheinst du überhaupt nichts zu ahnen! Schade, daß ich ihn zu Hause bei Mutter ließ.»
Sie wußte jedoch, daß ich immer viel zu tun hatte, und offenbar war es bei ihr ebenso gewesen.
Mit Unfreundlichkeit hat das gar nichts zu tun. Unvorhergesehene Ereignisse, wie zum Beispiel die große Borkenflut, hinderten Don und mich einmal, den halbjährlichen Besuch bei unsern liebsten Nachbarn auszuführen, bei reizenden Menschen, die nur neun Häuser weiter am gleichen Strand wie wir wohnen. Eines sonnigen Oktobernachmittags brachen wir in der besten Absicht auf.
«Ich hörte, daß Julias Chrysanthemen dies Jahr ganz prachtvoll sind», sagte ich zu Don, als wir den Fußweg hinuntergingen.
«Ich möchte mal wissen, was aus Georges Goldmine geworden ist», sagte Don. – Nun hatte George aber diese Goldmine genau vor sechs Jahren angefangen, und es kam uns beiden gar nicht in den Sinn, daß die Goldader, seit wir ihn das letzte Mal gesehen hatten, abgebaut sein könne. Immerhin, wir kamen bis an unsre Ufermauer, und dann sahen wir «es»: die herrlichste Borkenflut des Jahres! Von der Delphin-Halbinsel an lagen den ganzen Strand entlang große braune Borkebrocken, und sie schimmerten wie Seehunde. Selbst wenn man eine Einladung zu einem feierlichen Abendessen hat, kann man eine derartige Borkenflut nicht einfach übergehen. Wir stürzten also ins Haus zurück, holten unsre Borkensäcke und die Handschuhe, die wir beim Einsammeln benutzen, und machten uns an die Arbeit. Nach mehreren Stunden war die Bucht leer und aufgeräumt, die Ufermauer mit Borkesäcken bepackt und wir selbst zu erschöpft, um noch irgendwo anders hinzugehen als nach Hause. Während der Arbeit jedoch hatten wir von Zeit zu Zeit innegehalten und die Bucht entlang geschaut, um unsern Nachbarn freundlich zuzuwinken, die gleich uns auf ihrem Strandanteil umhersprangen und das kostbare Strandgut einkassierten. Alle genossen sie einige Stunden lang das gleiche Vergnügen: ein Arzt, ein Versicherungsagent, ein Rechtsanwalt, ein Schiffsbauer, ein Bankier, ein Zeitungsverleger und wir.
Die Bevölkerung breitet sich auf der Insel Vashon wie kleine Häufchen Fliegenschmutz aus. Und jede kleine Gemeinde hat ihren eigenen Namen, abgesehen von der ‹Stadt› Vashon selbst. Natürlich glaubt jede Gemeinde, bei ihnen lebten die feinsten, gebildetsten, intelligentesten und reizendsten Leute und die eigene Bucht sei die schönste, die Aussicht auf den Mount Rainier und die Olympics nirgends so herrlich wie gerade dort, und die Muscheln nirgends so lecker. Das Problem wird erst zur Ruhe kommen, wenn die Brücke von Seattle gebaut sein wird und alle Welt sehen kann, daß die Delphin-Bucht die lieblichste ist, und daher wohnen dort auch die reizendsten, begabtesten, klügsten Leute, obenan die MacDonalds!
Während der ersten Jahre auf unserer Insel hatten wir nur eine Nachbarsfamilie, die das ganze Jahr hindurch blieb. Es waren die Russells. Sie kauften ihr Haus im gleichen Jahr wie wir, und gleich uns arbeiteten sie auch noch in Seattle und fuhren täglich hin und her. Im Verlauf jener ersten Jahre kamen wir uns durch gemeinsam erlebte Schwierigkeiten nahe: durch den tiefen Schnee, die Lichtsperre, das Fehlen von Straßen, die schrecklichen Telefonverhältnisse, zeitweisen Holzmangel, Sturm und Regen, Kletterei auf schlechtem Fußpfad, und dann auch wieder geteilte Freuden: Anne und Joan (sie selbst haben keine Kinder), Gärtnern, Kochen, Essen, Strandfreuden, Muscheln, Stricken, Treibholz,
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