Die Insel und ich
Lektüre und das ganze Inselleben.
Die Russells sind Nachbarn, wie man sie früher in der guten alten Zeit des echten Aspiks aus Kalbsfüßen noch häufig angetroffen haben soll. Teller kehrten nie leer zurück. Immer bekam man Tee und Gurkenbrötchen vorgesetzt, wenn man nachmittags in der Nähe war. Oder man entdeckte plötzlich auf dem Küchentisch die Hälfte eines frischgebackenen Kuchens. Die Kinder bekamen Angorahandschuhe gestrickt. Wer krank war, erhielt Hühnerbouillon. Oder es hieß: «Ich rudere zum Laden hinüber, kann ich etwas mitbringen für euch?» Es ist traurig, daß das Tempo des Lebens heutzutage diese liebenswürdigen Beziehungen fast unmöglich macht Für uns bedeutet das Wort «Nachbar» noch immer eine warme, freundschaftliche Wirklichkeit, und nicht bloß das Nummernschild am Haus nebenan.
Im Laufe der Zeit wurden auch andre Sommerfrischler ganzjährige Inselbewohner, wenn nämlich ihre Kinder die Schule hinter sich hatten. Jetzt kann man selbst in den stürmischsten Nächten sieben traulich erhellte Häuser in unsrer Bucht zählen: sieben Freundschaftsfackeln!
Wie ich schon sagte, erfordert es eine gewisse angeborene Abhärtung, wenn man das Leben auf einer Insel richtig genießen will. Diese Eigenschaft kommt in Krisenzeiten erst richtig ans Tageslicht. Ich denke da an meine Nachbarin mit den vier verheirateten Söhnen. Sie selbst ist ein zartes, feines Frauchen und sieht zierlicher und jünger als ihre jüngste Schwiegertochter aus. Aber wenn es sein muß, schafft sie den Dung für ihren Garten drei Meilen weit her oder handhabt mit Leichtigkeit eine halbe Tonne Felsbrocken. Und eine andere Nachbarin, mein besonderer Liebling, hat einmal alle sechs Enkelkinder (und alle unter sechs Jahren!) für zwei Wochen zu sich eingeladen. Sie hat mir auch ihre Zauberformel verraten: jeden Fehler übersehen, jede kleine Tugend loben. Sie sagt: «Anstatt Tommy tagein, tagaus vorzupredigen, daß er der ungezogenste Bengel in den Vereinigten Staaten ist – und das ist er beinahe – sag ich ihm lieber, wie hübsch er seine Schuhriemen zugemacht hat – und nehme ein Aspirin. Schließlich will der Mensch lieber dafür bekannt sein, wie gut er sich die Schuhe zumachen kann, und nicht dafür, daß er die Katze tritt.» Die gleiche Zauberformel wendet sie auch bei Ehemännern an – obwohl da, außer dem Augenzumachen, noch etwas Stärkeres als Aspirin erforderlich ist!
Mehrere Sommer lang erscholl auf unserm Strand das Lachen und Rufen von achtundzwanzig Kindern, die noch nicht zwölf Jahre alt waren. Jetzt sind die meisten erwachsen, aber wie schnell schießt eine neue Generation in die Höhe! In unserm Haus allein haben wir jetzt sechs noch nicht Fünfjährige, und wenn ich erst die Neffen und Nichten anfahre, sind’s im Nu mehr.
Einige Jahre lang, nämlich während des Krieges, als die meisten Söhne und fast alle Ehemänner Militärdienst machten, waren verschiedene Häuser in unsrer Bucht vermietet, und ihre Insassen kannten wir nicht so gut. Obwohl wir ganz freundlich zu ihnen waren, kann ich mich nicht mehr genau an ihre Namen und Gesichter erinnern. Nur an ein paar Zwischenfälle, zum Beispiel mit der Frau, bei der Anne und Joan auf drei kleine Kinder aufpassen sollten. Sie taten es auch, aber hinterher rief mich die Mama an, weinte wie närrisch und sagte, Anne und Joan hätten eine ganze Wochenration aufgegessen. Als ich Anne und Joan ins Gebet nahm, gaben sie zu, sie hätten Kakao getrunken und dazu Brote mit süßsauren Gurken und Rahmbonbons gegessen. Zur Rechtfertigung konnten sie vorbringen, daß sie sehr hungrig gewesen seien und alles redlich mit den drei Hemingway-Kindern geteilt hätten, und dafür hätten sie bloß fünfundzwanzig Cents erhalten. Ich ersetzte die Lebensmittel und hatte die größte Lust, Mrs. Hemingway über Kinderhüterinnen aufzuklären, denn der Rasse der ‹Babysitter› gegenüber war sie offenbar noch ganz unerfahren. Da sie sich aber nicht einmal für die ersetzten Lebensmittel bedankte, entschied ich, sie könne ihre Lektion auch durch die harten Tatsachen lernen, daß nämlich alle Kinderhüterinnen einen Magen wie eine Riesenschlange haben, und wenn man verhindern will, daß die Speisekammer leer gegessen wird, soll man sie lieber zuschließen oder mit Mausefallen garnieren.
Dann erinnere ich mich noch an die wunderschöne, dunkeläugige kleine Mary, die etwa zwei Monate lang an unsrer Bucht wohnte – oder vielmehr ‹ruhte›. Sie sei sehr zart, sagte
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