Die Insel und ich
mehr so unausstehlich zu finden wie früher. Sie behandelte uns noch immer wie Aussätzige, aber wie «liebe alte Aussätzige». Von der braven Sorte, die so dumm ist, daß sie gar nicht weiß, wie dumm eigentlich. Ihre Haltung Joan gegenüber war die einer Angehörigen der Hindu-Kaste, die gezwungen ist, mit einer Unberührbaren zu leben. Ihre Freundinnen waren alle Mannequins. Ihr «Fester» war ein junger Mensch, den Don als den «Schleicher Bradley» bezeichnete.
Joan war in der Oberstufe, und da sie auch einen «Festen» hatte, standen immer zwei Paar Schuhe auf dem Kamin, und doppelt so viele leere Coca-Cola-Flaschen lagen darunter. Joan behandelte Don und mich nicht wie «gar nichts», sondern als «oh, der» und «sie».
Dann kam Joans achtzehnter Geburtstag, und ich saß wieder auf meinem Bett und wickelte Geschenke ein: eine rosa Kaschmirjacke, zwei neue Unterröcke und eine Einzelreihe Perlen (japanische, und kein Mensch trägt jetzt noch dreireihige, das ist ordinär). Es war im Juli, und Joans «Fester» verlebte seine Sommerferien bei uns, weil Joan solch Mitleid mit ihm hatte, daß sie ihn nicht liebte, und ich bekümmerte mich um die drei- und fünfjährigen Söhnchen meiner Schwester Alison, weil sie ein Baby erwartete, und Anne wohnte in Seattle – sie teilte sich mit einem andern Mädchen in ein Apartment und «lebte endlich ihr eigenes Leben» – was uns guten alten Aussätzigen in Biertrinken und Keine-Rechnungen-Bezahlen zu bestehen schien. Der Morgen von Joans Geburtstag war kühl und grau, und dicke Wolken wälzten sich wie Lokomotivenrauch von Süden heran.
Joan kam düster die Treppe herunter. Ehe sie ihre Geschenke auspackte, sah sie aus dem Fenster und sagte finster: «Schon wieder Regen! Was für ein grauenhafter Sommer!» Die beiden Kleinen, Darsie und Bard, waren ganz aufgeregt wegen des Geburtstags und der Geschenke, die sie ausgesucht und um sechs Uhr früh eingewickelt und mit ungeheuren Mengen Klebeband verpackt hatten, wobei fast mein dürftiger Vorrat an Selbstbeherrschung draufging. Sie hopsten um den Tisch und riefen: «Mach die Pakete auf, Joanie! Meins riecht gut. Das da! Mach’s auf!»
Joanie machte die Geschenke der Reihe nach auf, küßte die Kinder, küßte Don, mich und den «Festen», der dummerweise auch Perlen gekauft hatte. Dann verzog sie sich mit Fudge-Bonbons und einer Flasche Coca-Cola ins Wohnzimmer und machte von ihrem Geburtstagsrecht Gebrauch: nicht «arbeiten» zu müssen.
Danach besuchte sie die Universität, kam aber oft zu uns, weil sie sonst «Hungers gestorben» wäre. Die Universität bewirkte keine sichtbare Veränderung, abgesehen vom Lachen, das ein Wiehern mit offenem Munde und leicht zusammengekniffenen Augen war. Ihre allerbesten Freunde lachten alle ebenso. Anscheinend wurde es in dem Jahre so an der Universität gelehrt. Don und ich fanden das neue Lachen sehr unschön, und eines Tages waren wir so taktlos, es zu sagen. Joan explodierte wie ein morscher Heißwassertank. «Nichts kann ich rechtmachen», schrie sie. «Mein Haar paßt euch nicht, meine Kleider gefallen euch nicht, meine Freunde mögt ihr nicht, und die Art, wie ich Auto fahre, paßt euch auch nicht. Die wahre Ursache ist natürlich die, daß ihr keinen Sinn für Humor habt und hochgradig nervös seid.» Mit ihren Freunden verließ sie türenknallend das Haus – dann kehrten sie um und nahmen die Knoblauchdillgurken und ein großes Paket Schinkenbrote mit, die sie sich zurechtgemacht hatten.
Ich unterdrückte einen kräftigen und gar nicht mütterlichen Drang, den Eisschrank zu nehmen und ihnen nachzuwerfen, goß mir eine Tasse Kaffee ein, setzte mich an den Küchentisch und zündete mir eine Zigarette an. Was stimmte hier nicht? Was hatte ich falsch gemacht? Wo hatte ich versagt? Was war aus unserm glücklichen Heim geworden? Wer hatte diese hohe unüberwindliche Stachelmauer zwischen uns und den Kindern aufgetürmt? Würde es immer so sein? Würde es ebenso sein, wenn wir in der Stadt wohnten? Es war Samstag, und ich hatte noch nicht Staub gesaugt und noch nicht die Blumen in den Vasen und die Leintücher auf den Betten gewechselt, und es war mir alles einerlei. Am liebsten hätte ich mich mit dem Gesicht nach unten auf den Küchenfußboden geworfen, mit den Füßen gestrampelt und geheult. Nach zwei Zigaretten faßte ich in die Sesseltasche und holte matt das achtunddreißigste Buch über den Umgang mit heranwachsenden Kindern hervor. Ich schlug es ohne jede Hoffnung
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