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Die Insel und ich

Titel: Die Insel und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: betty McDonald
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auf. Vermutlich war es in der üblichen Tonart geschrieben: nichts weiter als dauernd auf die Veränderungen im Drüsen- und Hormonsystem des armen, bedauernswerten, mißverstandenen und falsch behandelten kleinen Halbwüchsigen hingewiesen! Ich wußte das alles, und ich hatte es satt! Was ich brauchte, war eine Zauberformel, ein Zaubermittel, ein beschwörender Spruch, mit dem ich die Teufel austreiben und meine Töchter wieder in normale, menschliche Wesen zurückverwandeln konnte.
    Dann plötzlich wurde mein suchender Blick gefesselt: die Sympathien dieses Arztes waren auf seiten der Eltern ! Ich setzte die Brille auf. Nach einer Stunde hatte ich immer noch nicht Staub gesaugt und noch immer nicht die welken Blumen fortgeworfen, aber ich selber – blühte auf! Dieser Verfasser, der Doktor Wilburforce, war großartig! Es klang ganz so, als habe er selbst auch Kinder im heranwachsenden Alter. Er schrieb, daß das Entwicklungsalter ein schwieriger Zeitabschnitt, aber vollkommen normal sei, und seine Sympathien seien nicht auf seiten der Halbwüchsigen. Er schrieb, es würde viel zu viel Gerede mit dem berühmten «Verständnis» gemacht, das den Halbwüchsigen und seine schlechten Manieren, seinen Egoismus und sein albernes Gehaben entschuldigt. Er glaubte, die weiseste Einstellung gegenüber dem Problem sei es, wenn man sich klar mache, daß der Halbwüchsige sich wie ein junges Tier empören und rebellieren müsse, wie könne er das aber, wenn kein Widerstand da sei, an dem er sich stoßen und scheuem könne? Daher solle man strenge Verhaltensregeln aufstellen und sie durchsetzen. Der Halbwüchsige muß sich ins Familienleben einfügen. Er darf den Haushalt nicht in ständiger Bewegung halten. In einem Schulheim dürfte er sich so etwas auch nicht erlauben. Anstatt einem jungen Menschen zuviel Freiheit, zuviel Taschengeld und die alleinige Verantwortlichkeit für seine Handlungen zu geben, solle man ihm lieber eine begrenzte Freiheit, weniger Geld und strenge Regeln für sein Benehmen geben – und Berge von Liebe! Nicht irgendeine versteckte «Du bist ja mein Kind»-Liebe, sondern eine deutlich und stündlich gezeigte Liebe, die sich in Umarmungen und Zärtlichkeiten, in reichlichem Lob und sehr interessiertem Zuhören äußert. Man soll seinem halbwüchsigen Kind sagen, daß es lieb und klug und hübsch und reizend und witzig ist. Man soll es ihm jeden Tag sagen, selbst wenn man ihm die Wagenschlüssel wegnehmen und es lieber verprügeln würde. Liebe ist der wichtigste Faktor in jeder Beziehung zwischen zwei Menschen, und einem Kind kann man nie zuviel Liebe geben.
    Ich begann schon, eine Melodie zu summen. Dann hörte ich, wie eine Wagentür zuschlug. Schuldbewußt sprang ich hoch. Ich hatte fast vergessen, daß Anne und eine Mannequin-Freundin über Wochenende zu uns kommen wollten. Ich stellte den Wasserkessel auf, um noch mal Kaffee zu kochen, fegte die Brotkrümel mit Dr. Wilburforce vom Küchentisch und ging nach draußen, um Anne meiner Liebe zu vergewissern.
    Ihr Äußeres ließ mich etwas zurückprallen. Aus Dr. Wilburforces Buch hatte ich entnommen, daß er von gewöhnlichen Halbwüchsigen sprach, von Mädchen in Sportschuhen, Rock und Pullover. Anne trug ein aschgraues Kostüm, Herrengamaschen, eine schwarz-weiß-karierte Herrenmütze und etwa zwanzig Pfund Perlen. Ihr Parfüm konnte man von der Küchentür bis zum Kirschbaum riechen. Das Mannequin hatte so schmale Hüften, daß ich nicht begriff, wie es überhaupt sitzen konnte, und war ganz in Schwarz und schwerem Goldschmuck. Ich war darauf gefaßt, eine Strafpredigt wegen meiner blauen Arbeitshosen (aus dem Laden in Vashon) und der billigen weißen Hemdbluse zu beziehen. (Nein, wirklich, Betty, du hast doch auch andere Sachen, und Hosen – jetzt, wo du alt bist –!) Ich spürte schon, wie mich wieder die vertraute alte Abwehrbereitschaft überkam, während ich Anne küßte und schnell sagte: «Ich mach euch gleich frischen Kaffee!»
    Anne sagte: «Oh, es ist herrlich, wieder zu Hause zu sein! Es duftet so schön auf der Insel!»
    Das Mannequin sagte: «Kein Wunder, daß du dauernd von euerm Haus schwärmst – es ist ja zauberhaft!»
    Anne setzte den Koffer hin, nahm die Männermütze ab und holte einen langen schwarzen Zigarettenhalter hervor, in den sie eine von meinen Zigaretten verschraubte. Dann sagte sie: «Ich bin zu gern hier auf der Insel. Es gibt mir andre Perspektiven. Hier weiß man gleich, was wesentlich ist.» Sie lächelte mir

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