Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende
gehalten hatte. Selbst, wenn es einen Himmel gab, war die Seele des Mannes entweder da oder nicht; kein Gebet der Lebenden konnte an ihrer Bestimmung irgendetwas ändern.
» Ist das Seil befestigt?«, fragte Thor.
» Ich mache es gerade fest«, erwiderte Aylsa. » Ich hoffe nur, es ist stark genug, um Euch zu tragen.«
» Geh du zuerst«, sagte Thor zu mir, und ich kam seiner Bitte nach. Wieder schockierte mich meine Schwäche. Ein einfaches Seilklettern, das sonst ein Kinderspiel gewesen wäre, wurde jetzt zu einer richtigen Anstrengung.
Thor folgte nicht sofort. Er blieb noch unten und sagte etwas zu Alain, woraufhin die beiden Männer sich umarmten. Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass der Patriarch und der Versprengte einander besser kannten, als einer von ihnen je hatte erkennen lassen.
Ich legte Aylsa eine Hand auf den Arm. Sie zitterte. » Lasst Euch davon nicht betrüben.«
» Es ist eine unserer striktesten Regeln – kein Mensch darf durch irgendetwas, das wir tun, zu Schaden kommen.«
» Dunkelmagier«, sagte ich sachlich, » sind keine Menschen. Sie verbreiten ganz sicher keine Menschlichkeit. Nicht einmal Silbbegabte, die von Dunkelmagiern bezwungen wurden. Der Mann, der er einst gewesen war, ist schon seit langem tot.« Ich streckte meine Hand nach unten, um Thor durch die Falltür zu helfen. » Dieser Mann hat sich nicht freiwillig zu einem Leben als Dunkelmagier entschieden, das ist wahr, aber er war trotzdem nicht weniger bösartig als Morthred. Ihr habt ihn aus seinem Unglück befreit, Aylsa. Ihr habt ihm einen Gefallen getan.«
Thor, der neben mir stand, nickte zustimmend. » Sie hat Recht.«
» Großer Graben!«, rief ich aus, als ich nun zum ersten Mal seit Tagen einen Blick auf ihn werfen konnte. Er sah schrecklich aus – voller Prellungen, schmutzig, einfach erbärmlich –, und ich hatte ihn nie zuvor mit den Anfängen eines Bartes gesehen. » Du siehst aus wie einer dieser Einsiedler von Breth!«
» Vermutlich rieche ich auch so. Aber vielleicht solltest du bei Gelegenheit mal einen Blick auf dich selbst werfen.« Er lächelte mich an. » Gott, tut das gut, aus diesem Loch raus zu sein!« Er bückte sich, um das Essen und Wasser nach unten zu lassen, und die Kerze. Als wir fertig waren, kniete Thor sich an den Rand des Lochs und sah zu Alains hochgewandtem Gesicht hinunter. » Auf Wiedersehen, mein Freund. Einer von uns wird zurückkehren.«
Die schwache Stimme hallte hinauf. » Und möge Gott mit Euch gehen, Junge. Mit Euch allen.«
Thor schloss die Falltür, und wir waren wieder im Dunkeln.
» Irgendwie«, sagte ich leise, » habe ich das Gefühl, dass Syr-Patriarch Alain Jentel mich nicht sehr schätzt.«
Ich spürte, wie Thor lächelte. » Du bist für ihn zu gottlos, mein Herz. Und er glaubt, du hättest einen schlechten Einfluss auf mich.« Er zuckte mit den Schultern. » Es ist ein Fehler, den leider die meisten Patriarchen machen. Sie sind selbst so verdammt gut, dass sie es schaffen, uns gewöhnlicheren Sterblichen immer wieder das Gefühl zu geben, wir wären ewige Sünder ohne jede Hoffnung, jemals einen Blick durch die Himmelstür werfen zu können. Komm, verschwinden wir von hier.«
Wir tasteten uns zur Tür und öffneten sie. Draußen war Licht zu sehen, schwaches Tageslicht, das durch irgendwelche Fenster weiter vorn fiel. Von diesem Moment an konnten wir uns nur noch auf unsere Intuition verlassen, denn wir hatten keinen Plan. Was auch nicht schlimm war, da alles, was wir uns hätten ausdenken können, ohnehin nie geklappt hätte.
Wir schlichen den Gang entlang (Thor und ich hatten kaum eine andere Möglichkeit, als zu schleichen, da wir immer noch die Fesseln um die Knöchel trugen), und ich fürchte, wir sahen aus wie drei Ratten aus einem Armenviertel und rochen auch so. Bei dem Raum am Ende des Ganges handelte es sich um eine Art Folterkammer, die sich fast gänzlich unter der Erdoberfläche befand. Die Fenster reichten bis knapp unter die Decke. Das Zimmer war mit allen möglichen scheußlichen Folterwerkzeugen ausgestattet, aber es war niemand da. An dem einen Ende war eine offene, kalte Herdfeuerstelle, die sich etwa auf Hüfthöhe befand. Ein großer Kamin war darüber gemauert. » Diese Mistkerle«, murmelte Thor, während er sich umsah. » Diese verfluchten Mistkerle.« Er nahm einen Hammer und einen Meißel auf. » Vielleicht können wir damit diese verdammten Eisen lösen«, sagte er. » Komm her, Glut, ich versuch’s bei dir.« Ich
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