Die Inselvogtin
weitergehen können. Hunger und Durst verspürte sie nicht, der Weiße Knecht hatte mit gespielter Großzügigkeit ein paar Brotkrusten für sie übrig gelassen. Trockenes, säuerliches Brot, dazu Wasser, mehr nicht, aber es war ausreichend, um ihren Magen zu füllen.
»Fürstin? Eure Durchlaucht? Seid Ihr es wirklich?« Ein junger Mann mit feuerrotem Haar beugte sich über sie. An seiner Hand führte er ein blasses Mädchen, hochschwanger. Sie trug Kleider, die viel zu bunt und vor allem viel zu offenherzig waren. Bin ich also schon so weit gesunken, dass ich mich von einer Dirne und ihrem Freier aus der Gosse ziehen lassen muss, dachte Wilhelmine.
»Ich bin Rudger, der persönliche Sekretarius des Geheimrats. Kann ich Euch helfen, Eure Durchlaucht?« Er reichte ihr seine Hand, aber Wilhelmine fehlte sogar die Kraft, danach zu greifen. »Das Haus meines Herrn ist nur ein paar Schritte entfernt. Ich werde ihn holen, damit wir Euch in Sicherheit bringen können.« Dann wandte er sich an die Dirne: »Trientje, bleibe du so lange bei der Fürstin, bis ich wieder da bin.«
Das Mädchen nickte verschüchtert. Auch sie schien zu frieren, trotzdem öffnete sie ihren farbigen Umhang, streifte ihn ab und legte ihn Wilhelmine über, ohne nur ein Wort zu sagen. Kurz darauf kam der Rothaarige zurück, dicht gefolgt von Switterts, der seinen Mantel notdürftig über das Schlafhemd geworfen hatte, und zwei Bediensteten.
»Fürstin, Gnädigste, Ihr lebt!« Wilhelmine sah ihm an, dass seine Freude echt war, und ihr fiel der Neujahrsmorgen und ihre gemeinsamen Stunden wieder ein. Jene Begegnung erschien ihr, als wäre sie in einem anderen Leben passiert. Erst als sie Switterts’ kräftige Arme unter ihren Knien und hinter ihrem Nacken spürte, erinnerte sie sich an die Entführung und an das, was zuvor geschehen war. Ihr schwindelt.
Der Geheimrat hob sie von der kalten Straße und trug sie zu seinem Haus. Doch das war zu viel für die Fürstin, zu viel Gefühl, zu viel Erleichterung, zu viel Müdigkeit.
Wilhelmine fiel in das dunkle Bett der Bewusstlosigkeit.
Als es ihr gelang, die Augen wieder zu öffnen, fand Wilhelmine sich in einem weichen, großen Kissen wieder. Über ihr ein reichlich bestickter Baldachin, auf dem Nachttisch eine Tasse edler Kaffee, und von draußen fiel bereits Licht herein. Sie musste die restlichen Stunden der Nacht über hier gewesen sein.
Als sie vorsichtig ihren eigenen Körper betastete, stellte Wilhelmine fest, dass sie gewaschen war und ein sauberes Hemd trug. Mühsam richtete sie sich auf.
Der Geheimrat stand am Fenster, er war wie immer gut gekleidet und hielt in der Hand die Papierrolle, die der Weiße Knecht ihr bei der Kutschfahrt zugesteckt hatte.
»Was verlangen sie?«, fragte sie und erschrak über das Krächzen ihrer eigenen Stimme.
Switterts wandte sich zu ihr, lächelte kurz, und Wilhelmine dachte einen Moment, er würde vielleicht an ihr Bett treten und sie berühren. Doch er blieb, wo er war.
»Es ist eine lange Liste mit Forderungen. Wollt Ihr, dass ich Euch vorlese?«
Sie nickte. »Wenn Ihr mir zuvor noch etwas zu trinken bringen könntet? Mir tut alles weh, mein Kopf, meine Glieder, ein Schluck Wein würde mich entspannen.«
Switterts nickte der Magd zu, deren Anwesenheit Wilhelmine erst jetzt gewahr wurde und die sich sogleich in Bewegung setzte.
»War sie es, die mich gewaschen und umgezogen hat?«
»Selbstverständlich! Ich habe das Mädchen sofort wecken lassen. Ich hoffe, es war in Eurem Sinne … «
»Ich bin Euch zu tiefstem Dank verpflichtet. Und diese junge Frau auf der Straße?«
Switterts verdrehte die Augen. »Es tut mir leid. Mein Sekretarius … nun ja, er hat eine Schwäche für diese … Ihr wisst schon, was ich meine.«
Wilhelmine nippte an dem süßen Kaffee. Sie liebte dieses vornehme, modische Getränk beinahe so sehr wie den Wein. »Schon gut. Sie ist schwanger, habe ich gesehen. Und sie hat mir ihren Mantel geliehen. Bitte, veranlasst, dass diese junge Frau zwanzig Gulden bekommt. Ich denke, sie kann das Geld gut gebrauchen.«
Switterts zögerte kurz. »Das ist sehr großzügig von Euch.«
»Sie war es auch … «
Endlich brachte die Magd den Wein. Wilhelmine nahm einen tiefen Schluck und genoss das kühle Gefühl in der Kehle mit geschlossenen Augen. »Und nun lest mir die Forderungen vor.«
Der Geheimrat entrollte das Papier und seufzte. »Eure Durchlaucht, Fürst Carl Edzard von Ostfriesland, unsere Gruppe wünscht sich die
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