Die Intrige
Kerle haben nur am Anfang, als sie ins Zimmer kamen, versucht, leise zu sein«, meinte Alex. »Wenn man Dinge geheim halten will, steht man nicht mitten in der Nacht im Hof und brüllt ›Wo sind die Leiber?‹, und man stürmt auch nicht mit Fackeln die Treppe hinauf und durchsucht die königlichen Gemächer.« Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht … vielleicht wollten sie es so aussehen lassen, als wären wir unabsichtlich heruntergefallen. Als wären wir auf der Flucht ums Leben gekommen.«
»Auf der Flucht ums Leben gekommen«, sagte Katherine. »Natürlich!« Sie hob den Kopf, als täte es ihr gut, überhaupt etwas zu wissen. »Wenn die Herrscher in Diktaturen politische Gefangene hinrichten lassen, ohne dass sie einen fairen Prozess hatten, behaupten sie immer, sie wären bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Darüber haben wir in Gemeinschaftskunde gesprochen.«
Jonas fand, dass der Gemeinschaftskundeunterricht im sechsten Schuljahr deutlich brutaler geworden war als zu seiner Zeit. Aber Katherine hatte auch die alsbesonders hart bekannte Mrs Hatchett als Lehrerin, der alle tunlichst aus dem Weg gingen.
»England ist keine Diktatur«, sagte Chip steif und fast ein bisschen beleidigt. »Eine Monarchie, ja, aber wir haben auch ein Parlament, eine parlamentarische Regierung.« Etwas wie Überraschung spiegelte sich in seinem beinahe unsichtbaren Gesicht. »Wie seltsam. Ich kann immer noch denken wie er.«
Sie mussten nicht erst fragen. »Er« war Eduard V.
»Hat
er
denn gewusst, was letzte Nacht vor sich ging?«, fragte Jonas. »Oder …«, er warf einen Blick auf Alex, »der Prinz?«
Alex und Chip sahen sich an.
»Das ist nicht ganz einfach. Die Dinge haben sich ziemlich merkwürdig entwickelt in letzter Zeit«, sagte Chip gedehnt.
»Vielleicht kannst du es uns erklären. Wann hat es denn angefangen, merkwürdig zu werden?«, wollte Jonas wissen. Er sah auf das Tablett mit Bier und Haferbrei und auf seine eigenen, praktisch durchsichtigen Hände. »Außerdem, was ist hier schon normal?«
Chip runzelte die Stirn.
»Normal war, dass ich König wurde, als mein Vater starb«, sagte er. »Alle haben das erwartet.«
Katherine machte den Mund auf und Jonas rechnete damit, dass sie dagegen protestieren würde, dass Chip vom König wieder in der ersten Person sprach. Aber sie sagte nur: »Erzähl weiter.«
»Als ich von der Neuigkeit erfuhr, war ich zu Hause – dort, wo ich lebe –, bei meinem Onkel auf Schloss Ludlow«, berichtete Chip.
»Du hast bei dem Kerl gelebt, der dich umbringen wollte?«, fragte Jonas entsetzt.
Chip kniff die Augen zusammen, als denke er nach. Oder als koste es ihn Mühe, seine Erinnerungen aus dem fünfzehnten Jahrhundert in Erklärungen umzuwandeln, die andere verstehen konnten.
»Nein, nein, bei einem anderen Onkel«, sagte er dann. »Aus dem anderen Zweig meiner Familie. Ich habe bei Graf Rivers gelebt, dem Bruder meiner Mutter. Zwischen beiden Seiten gibt es viel … böses Blut. Die Familie meines Vaters hält die Familie meiner Mutter für habgierig und geltungssüchtig und, keine Ahnung, irgendwie für unstandesgemäß und protzig.«
»Aber das sind sie nicht!«, unterbrach ihn Alex.
»Nein, natürlich nicht!«, sagte Chip. »Großmütterlicherseits haben sie sogar königliches Blut, das bis zu Karl dem Großen zurückreicht!«
Jonas wusste nicht mehr, wann Karl der Große gelebt hatte, meinte aber, dass er Franzose gewesen sei. Wenn sie jetzt auf einen ganz anderen König und ein völlig anderes Land zu sprechen kamen, würden sie nie zum Ende kommen.
»Beschäftigen wir uns lieber wieder damit, dass du König wurdest«, sagte Jonas. »Was ist dann passiert?«
»Graf Rivers hat gesagt, dass ich nach London reisenmuss, um dort gekrönt zu werden«, sagte Chip. »So schnell wie möglich, hat er gesagt.« Chip hörte sich jetzt jünger an, als sei er wirklich der zwölfjährige König. Und von »Graf Rivers« sprach er mit einer Bewunderung, wie sie ein anständiger Teenager nur für einen Top-Athleten an den Tag legen würde.
»Also hat dich Graf Rivers sofort nach London gebracht?«, fragte Jonas.
Zu seiner Überraschung begann Chips Unterlippe zu zittern, was Jonas, in Anbetracht von Chips gläsernem Gesicht, für unmöglich gehalten hätte. Trotzdem schien er seltsamerweise kurz davor zu stehen, in Tränen auszubrechen.
»Nein«, rief er fast wimmernd. »Aber nicht, weil er nicht wollte. Es mussten … Vorbereitungen getroffen werden! Truppen
Weitere Kostenlose Bücher