Die Intrige
»Soll ich euch zeigen, welche Intrigen und Komplotte die Königin währenddessen schmiedet?« Szenen huschten im Schnelldurchlauf vorbei: Wieder und wieder traf sich die Königin mit düsteren Männern. »Vielleicht solltet ihr darüber nachdenken, wie bereitwillig sie ihre Kinder in Gefahr bringt, nur um die politische Macht zurückzugewinnen? Niemand in dieser Geschichte hat edle Motive. Nicht einmal eure Freunde.«
Wieder veränderte sich die Szenerie. Jetzt waren sie zurück bei Chip und Alex, die mit Holzschwertern auf einer Wiese fochten. Chip holte aus und schlug Alex das Schwert aus der Hand. Dann drückte er seinen Bruder mit der flachen Seite des Schwerts zu Boden und hielt ihn dort fest, indem er ihm die Klinge auf die Brust setzte. Chip warf den Kopf zurück und lachte.
»Sie spielen«, sagte Jonas. »Sie spielen doch nur.«
»Sicher«, sagte HK. Aber es sah aus, als wollte er eigentlich etwas anderes sagen.
Jonas musterte seine Freunde eingehend und suchte nach den Spuren eines Einstein- T-Shirts , das vielleicht durch Alex’ Gewand schimmerte, oder dem letzten Rest des Nike-Logos auf Chips schwarzen Schuhen. Er konnte nichts entdecken. Er starrte ihnen ins Gesicht: Waren ihre Gedanken die des fünfzehnten oder des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Es ließ sich einfach nicht feststellen.
Dann bemerkte er etwas.
»Sind das etwa
Barthaare
auf Chips Oberlippe?«, fragte er. »Ist ihm in den paar Tagen, die er dort ist, ein Bart gewachsen?«
HK sah auf den Definator und überprüfte das Datum.
»Was du da siehst ist 1485«, sagte er. »Es ist wieder Sommer. Chip und Alex sind seit zwei vollen Jahren dort. Chip ist jetzt vierzehneinhalb und geht auf die fünfzehn zu.«
Jonas betastete seine eigene Oberlippe. Zu Hause schloss er sich hin und wieder im Badezimmer ein und suchte im Spiegel nach den ersten Anzeichen eines Flaums. Wenn er sich im richtigen Licht und genau im richtigen Winkel hinstellte, konnte er mindestens sechs blasse Härchen auf seiner Oberlippe ausmachen. Er hatte angenommen, dass Chips Bartwuchs in etwa genauso weit war.
Dieser neue Chip von 1485 hatte so viele Barthaare, dass man sie von jedem Winkel aus sehen konnte, im Hellen wie im Dunkeln.
»Chip ist genauso alt wie ich«, widersprach Jonas. »Dreizehn.«
»Wenn du Chip von seinem Marker trennst, ist er wieder dreizehn«, stellte HK richtig. »Aber im Moment …«
Chip hob triumphierend das Schwert über den Kopf und der Ärmel seines Obergewands rutschte hinab und gab den Blick auf einen gut ausgebildeten Bizepsfrei. Der Wind ließ seine Haare wehen – und irgendwie wirkten die schulterlangen blonden Locken überhaupt nicht mehr mädchenhaft.
»Boah«, flüsterte Katherine. »Er sieht aus wie ein Footballspieler. In der Highschool-Mannschaft.«
Unten auf dem Boden machte Alex Anstalten, sich aufzurichten. Blitzschnell hatte Chip das Schwert wieder unten und zielte auf die Kehle seines Bruders.
Sie spielen nicht, wurde Jonas klar, während es ihm eiskalt über den Rücken lief. Sie üben.
Achtundzwanzig
»Euer Zeitfenster ist äußerst klein«, erklärte HK.
»Ach, wirklich?«, sagte Katherine sarkastisch. »Das hast du bisher noch gar nicht erwähnt.«
Sie waren endlich bereit, zurückzukehren und Chip und Alex zu retten. Millionen Male war HK die Anweisungen mit ihnen durchgegangen und hatte ihnen wieder und wieder eingeschärft, wie wichtig es sei, dass sie die Jungen genau im richtigen Moment von ihren Markern trennten. Geschah es zu früh, geriet die Zeit durcheinander. Geschah es zu spät, konnten Chip und Alex sterben.
Es war diese Möglichkeit, die Jonas Bauchschmerzen und Gänsehaut verursachte und ihm den kalten Schweiß ins bartlose Gesicht trieb.
Ich bin ein dreizehnjähriger Junge, dachte er. Katherine ist noch nicht mal zwölf. Warum sollte uns jemand Entscheidungen über Leben und Tod überlassen?
Er kannte die Antwort. Er kannte sie, weil er von HK wusste, dass die Zeitexperten Computerberechnungenangestellt und alle möglichen Szenarios überprüft hatten. Chip und Alex konnten das fünfzehnte Jahrhundert nur überleben, wenn sie von Jonas und Katherine gerettet wurden.
Das Wissen, dass er und seine Schwester die einzige Hoffnung für ihre Freunde waren, machte die Sache für Jonas nicht besser.
»Dann lass uns gehen«, sagte er mürrisch.
»Wartet! Achtet einfach darauf, dass …« HK verstummte und grinste reumütig. »Ach, egal. Ihr wisst sowieso, was ich sagen will. Es ist nur … seid
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