Die Invasion - 5
etwas, das weit über das Entsetzen angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes hinausging. Zumindest ein Funken ... ja, ein Funken Ungewissheit, als man ihn nun vor die Schwelle des Todes brachte. Was würden er und die anderen Inquisitoren vorfinden, wenn sie schließlich von Angesicht zu Angesicht vor den Opfern der Inquisition stünden?
»Dann wünsche ich Ihnen viel Freude mit Ihrem Selbstvertrauen«, erwiderte Rock Point mit eisenharter Stimme dem ehemaligen Intendanten. Er nickte den Matrosen zu, die das andere Ende der Taue hielten.
»Vollstreckt das Urteil!«, sagte er.
.II.
Merlin Athrawes' Kabine,
HMS Kaiserin von Charis ,
hisholmianische See
Sergeant Seahamper musste ein Naturtalent sein. Zu diesem Ergebnis kam Merlin Athrawes, während er zuschaute, wie sich Kaiserin Sharleyans persönliche Leibwache im Gebrauch der Pistole versuchte.
Und, dachte Athrawes und hätte sich beinahe ein schiefes Grinsen gestattet, für Sharleyan gilt das auch! Nicht sehr damenhaft! Er verkniff sich ein leises Lachen. Andererseits: Die Lady hat wirklich einen ganz eigenen Stil, nicht wahr?
Hätte jemand zufällig einen Blick in Merlins kleine, beengte Kabine an Bord der Königin von Chans geworfen, hätte er zweifellos vermutet, Merlin schlafe. Schließlich war es an Bord des Flaggschiffs dieser Flotte bereits zwei Stunden nach Sonnenuntergang, auch wenn es daheim, in Tellesberg, noch mehrere Stunden lang helllichter Tag bleiben würde. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang mochte vielleicht ein wenig früh sein. Captain Athrawes war allerdings eingeteilt, die Morgenwache für Kaiser Cayleb zu übernehmen. Also war es durchaus sinnvoll, wenn der Captain so früh wie möglich zu Bett ging. Im Augenblick lag er ausgestreckt in seiner hülsenartigen Hängematte, die von der Decke der Kabine herabgelassen war. Sanft schwankte sie im Takt der Dünung. Die Augen hatte Athrawes geschlossen; er atmete tief und regelmäßig. Doch sosehr es auch danach aussah, eigentlich atmete er überhaupt nicht. Das hatte das Individuum, das als Merlin Athrawes bekannt war, schon in den letzten neunhundert Jahren nicht ein einziges Mal getan. Tote Frauen mussten nun einmal nicht atmen; und PICAs hatten derart einschränkende Dinge ebenfalls nicht nötig.
Eigentlich bestand auch keinerlei Notwendigkeit für Athrawes, so etwas wie Schlaf - oder auch Atmung - vorzutäuschen. Es war nicht damit zu rechnen, dass jemand ungebeten während der dienstfreien Zeit der persönlichen Leibwache Kaiser Caylebs in dessen Kabine hereinstürmen würde. Und selbst wenn dem doch so wäre, waren Merlins Reflexe nun einmal ebenso übermenschlich schnell, wie sein Gehör übermenschlich empfindlich war. Jemand, dessen ›Nervenimpulse‹ sich einhundert Mal schneller fortbewegten als die eines jeden biologischen Lebewesens, hätte immer noch reichlich Zeit, rechtzeitig die Augen zu schließen und mit dem ›Atmen‹ anzufangen. Doch Merlin hatte nicht die Absicht, sich selbst bei Kleinigkeiten wie diesen zu Nachlässigkeiten hinreißen zu lassen. Es kursierten schon jetzt genügend sonderbare Geschichten über Seijin Merlin und seine beachtlichen Fähigkeiten.
Natürlich kam selbst das unglaublichste Gerücht der Wahrheit nicht einmal ansatzweise nahe, und Merlin hatte die Absicht, es dabei auch zu belassen, solange dies eben möglich war. Wenn er das irgendwie schaffte, bedeutete das: für alle Zeiten. Das war der ganze Grund dafür, dass er sich dafür entschieden hatte, die Bühne als Seijin zu betreten. Die Seijin waren jene Kriegermönche, die in vielen, ja in unzähligen Legenden hier auf dem Planeten Safehold eine Rolle spielten. Den Seijin wurden derart viele verschiedene wundersame Fähigkeiten zugeschrieben, dass sich fast alles, was Merlin zu tun in der Lage war, mit der richtigen Handbewegung abtun ließe.
Vorausgesetzt natürlich, es gelingt demjenigen, der diese Handbewegung vollführt, dabei ernst zu bleiben, rief er sich selbst ins Gedächtnis zurück.
Bislang war das der Hand voll Menschen, die über Merlin die Wahrheit wussten, gelungen ... und dabei half ihnen zweifellos, dass die Wahrheit jedem hier auf Safehold noch ungleich bizarrer erschienen wäre. Zu erklären, Merlin Athrawes sei ein Seijin, war viel leichter, als der Bevölkerung eines ganzen Planeten, die systematisch mit einer gänzlich anti-technischen Denkart indoktriniert worden war, zu erläutern, er sei in Wirklichkeit der Persönlichkeits-Integrierte CyberAvatar einer
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