Die irische Meerjungfrau
blieb stehen. An einem klaren Tag hätte er weit übers Meer schauen können. Vielleicht hätte er in der Ferne sogar die Küste der benachbarten Halbinsel erspäht, irgendwo zwischen unzähligen Riffen und schroffen Vogelfelsen. Seine Augen wären der Küstenlinie gefolgt, nach Norden bis zum Cape Cloud mit dem alten Leuchtturm, nach Süden vielleicht sogar bis zur Brücke, die Foley mit dem Festland verband. Denn genau genommen war die Landzunge, auf der das Dorf lag, eine Insel. Eine schmale Rinne Meerwasser, gerade einen Steinwurf breit, trennte sie von der eigentlichen Halbinsel ab.
Böse Zungen behaupteten, Gott habe den sündigen Teil des Mittelfingers von seiner Hand abgeschlagen, aber der Teufel hatte ihn wieder angenäht, indem er eine Brücke baute. Die Einwohner von Foley hatten da allerdings ihre eigene Interpretation. Sie sahen es genau anders herum und wurden darin noch bestärkt durch die Tatsache, dass vor einigen Jahren ein ehrbarer Bürger aus dem Nachbarort versucht hatte, die Brücke zu sprengen, um die lästige Schmugglerbande loszuwerden oder ihnen wenigstens das Geschäft zu vermiesen. Der Sprengsatz war zu früh hochgegangen und der Bombenleger hatte dabei seine Hand verloren. Gab es jemals einen schlagkräftigeren Beweis für göttliche Gerechtigkeit?
Fin hatte nicht mehr weit bis zum Friedhof. Der steilste Teil des Weges lag hinter ihm. Ihm war warm geworden durch den Aufstieg. Er atmete auf und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, bereute es aber sofort. Wind kam auf, ein kalter Wind aus dem Norden, der die Wolkenknäuel wie Schafe über den Hügel trieb. Ab und an blinzelte sogar die Sonne für einen kurzen Moment durch den grauen Dunst. Doch eigentlich sah es eher aus, als ob es gleich schneien wollte. Der Novemberhimmel schob düstere Wolkengebilde über die karge Landschaft, als wolle er alles mit einem Leichentuch zudecken.
Fin hatte schon ewig keinen richtigen Schnee mehr erlebt. In Dublin gab es im Winter manchmal ein paar Flocken, aber die waren selten wirklich weiß, und was auf den Straßen liegenblieb, war in Minutenschnelle zu Matsch zusammengefahren.
Ob es hier Schnee gab?
Als Antwort fegte der Wind ihm eisige Graupel übers Gesicht. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und verfluchte sich, weil sein schöner warmer Schal im Auto lag. Doch so plötzlich wie der Schauer aufgekommen war, war er auch schon wieder vorbei. Die Sonne brach wieder durch die Wolken und strich über die Landschaft, ließ in der Ferne verstreut grasende Schafe aufleuchten, tauchte für einen Moment die kleine Kirche in warmes Licht und wanderte weiter über die Wiesen und die weißen Steine, die zwischen den Gräsern wuchsen, als habe jemand sie gesät.
Fin hielt inne. Die Hände tief in den Taschen seiner Jacke, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, betrachtete er fröstelnd die Steine. Sie lagen nicht zufällig so da. Es war ein alter Kinderfriedhof. Die letzte Ruhestätte für jene, die Gott zu sich gerufen hatte, ehe sie getauft werden konnten und denen die Kirche ein christliches Begräbnis in geweihter Erde verweigert hatte. Die weißen Steine waren alles, was den Müttern und Vätern zur Erinnerung geblieben war. Halbversunkene Inseln in einem Meer aus Gras.
Die Sonne war weitergezogen und endgültig hinter Wolkentürmen untergegangen. Die Steine verschwanden wieder in der tiefen Finsternis einer düsteren Vergangenheit. Fin hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, ein stummes Gebet zu sprechen, aber es fiel ihm nichts Passendes ein.
Eine Mauer aus lose aufgeschichteten Steinen umgab den Dorffriedhof. Am Eingang hing ein schmiedeeisernes Tor zwischen zwei Pfosten, rostzerfressen und völlig verkantet diente es seinem Zweck schon lange nicht mehr. Es abzuschließen hätte keinen Sinn gemacht, an vielen Stellen war die Einfriedung zu kleinen, von Moos überwucherten Schutthalden zusammengesunken. Man konnte bequem darüber hinwegsteigen. Haselnusssträucher hatten die Mauer ersetzt. Die kahlen Äste rieben im kalten Seewind aneinander, es klang, als ob sie mit den Zähnen klapperten.
Die meisten Grabsteine waren uralt. Die Witterung hatte ihre Spuren hinterlassen, hatte Risse in den Stein gegraben, Linien, wo der Steinmetz sie nicht geplant hatte. Graue und gelbe Flechten überwucherten die Namen. Die Natur schrieb mit ihrer ganz eigenen Handschrift das Leben nach dem Tod einfach weiter.
Das Gras zwischen den Gräbern war kniehoch. Obwohl kein Zaun die Schafe fernhielt,
Weitere Kostenlose Bücher