Die irische Meerjungfrau
desto plausibler erschien ihm ihre Geschichte. Nicht der Teil mit den Feen, nein, aber die Sache mit dem Lkw mitten in der Nacht.
Seine persönliche Erinnerung an die Geschichte war mehr als lückenhaft. Er war damals wohl noch zur Schule gegangen oder hatte gerade seine Ausbildung begonnen. Er rechnete zurück. Die berüchtigten Keane-Brüder konnten damals bestenfalls zwölf und fünfzehn Jahre alt gewesen sein. Was aber nichts heißen sollte – so manche kriminelle Laufbahn hatte bereits in den Kinderschuhen begonnen.
Fin hatte das Ende der Dorfstraße erreicht. Vor ihm stand nur noch die Tankstelle mit ihrem Kiosk und den beiden Zapfsäulen. Er drehte sich um.
Foley lag auf einem schmalen Streifen zwischen dem Meer und einem kahlen, graubraunen Hügel, dessen Kuppe höchstens zweihundert Meter maß und gerade im alles verschlingenden Nebel verschwunden war. Eine bunte planlose Ansammlung von Häusern, Cottages, Ställen und Scheunen, deren einzige Orientierung die Küstenstraße schien, die mittendurch führte. Irgendwie wurde man den Eindruck nicht los, das ganze Dorf sei eines Tages vom Hügel herabgerutscht und hatte auf seinem Weg bergab auf halber Höhe Kirche und Friedhof verloren.
Fin warf einen Blick auf seine Uhr. Für ein Mittagessen im Pub war es eindeutig zu früh, davon abgesehen war er sich sicher, dass er nach dem opulenten Frühstück bis zum Abendessen keinen Bissen herunterbekam. Also fasste er einen Entschluss.
Er suchte einen Toten. Und wo fand man Tote im Allgemeinen? Auf Friedhöfen. Kein schlechter Ansatz …
Eine schmale, schlecht befestigte Straße schlängelte sich den Hügel hinauf, voller Schlaglöcher und gerade breit genug für ein einziges Fahrzeug. Mehr oder weniger intakte Mauern zu beiden Seiten verhinderten ein Ausweichen. Wer zu Gott wollte, musste schon auf ihn vertrauen oder im Falle eines Falles verdammt gut rückwärts fahren können. Ein paar Cottages verloren sich in der Landschaft, grau und von Brennnesseln umwuchert. Die meisten sahen verlassen aus, auch wenn hier und da Stromkabel die Straße kreuzten und zu den Gebäuden führten. Die alten hölzernen Masten hatten sich dem Wind gebeugt und sahen wenig vertrauenerweckend aus. An einem lehnte ein Fahrrad ohne Reifen und gammelte still vor sich hin.
Fin kam gehörig ins Schwitzen, auch wenn der Weg an sich gar nicht so steil war. Er war es nicht gewohnt, mehr als fünfhundert Meter zu Fuß zu gehen. Außerdem taten ihm die Füße weh. Der Verkäufer im Sportgeschäft hatte ihm geraten, die Schuhe vor der ersten größeren Tour richtig einzulaufen. Woher hätte er wissen sollen, dass der Mann recht hatte?
Susan hatte natürlich ihre eigene Erklärung für seine miserable Kondition. Ihrer Ansicht nach lungerte er zu viel vor dem Fernseher herum, trank zu viel und stopfte zu viel Fastfood in sich hinein. Ständig hatte sie an ihm rumzumäkeln. Dabei war er der Meinung, dass er sich für sein Alter noch ziemlich gut gehalten hatte. Okay, vielleicht kam er nicht ganz auf sein Idealgewicht, aber bei einer Größe von einsfünfundachtzig verteilte sich das bisschen Zuviel ganz anständig. Sicher, etwas mehr Bewegung als den Müll runterzutragen und die Getränke hochzuschleppen konnte nicht schaden, aber man sollte es auch nicht gleich übertreiben.
Er blieb stehen und holte tief Luft. Wäre er weiter keuchend über den Schotter geschlurft, hätte er den Motor nicht gehört. Wie ein Raubtier schoss ein Wagen um die Kurve auf ihn zu, ein Geländewagen, dunkel, blankpoliert, ziemlich neu – mehr konnte Fin nicht erkennen, dann war er vorbei und in einer Wolke aus Kies und Erdbrocken verschwunden.
»Arschloch!«, brüllte er ihm hinterher. Er hatte sich geistesgegenwärtig gegen eine halbverfallenen Steinmauer gedrückt und klopfte sich nun demonstrativ den imaginären Staub von der Jacke, auch wenn es sonst keiner sah.
Sein Herz klopfte ungesund heftig. Vorsichtig spähte er voraus um die Kurve und beruhigte sich langsam wieder. Er nahm nicht an, dass er gerade dem Pfarrer auf dem Weg zur letzten Ölung begegnet war. Aber man konnte nie wissen.
Bald ließ er die kümmerlichen Mauerreste hinter sich. Eine Weile zeigten ihm verwitterte Holzpfosten mit rostigem Draht, wo früher mal Vieh geweidet hatte, dann hörte auch das auf.
Die Luft wurde zunehmend feuchter. Obwohl er nur wenige Meter über dem Meeresspiegel war, hatte Fin das Gefühl, die Wolken greifen zu können, so tief klebten sie am Hügelkamm.
Er
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