Die irische Meerjungfrau
schienen sie den Ort zu meiden. Zwischen Klee und Unkraut lagen Plastikblumen in Folie verpackt wie in durchsichtigen Plastiksärgen, verblichene Gaben von Angehörigen, die immer seltener den Weg hierherauf fanden.
Fin mochte keine Friedhöfe, und dieser hier war besonders trostlos. Man konnte die Vergänglichkeit förmlich riechen, erahnen wie die Würmer in der nassen Erde ihrer Arbeit nachgingen. Und über allem diese Totenstille, nur durchbrochen vom melancholischen Krächzen einer einsamen Krähe. Wäre er ein Filmregisseur gewesen, er hätte es nicht besser inszenieren können.
Er schlenderte zwischen Grabreihen und Kreuzen hindurch und suchte nach einem Namen.
Thomas Keane.
Das Grab war nicht zu übersehen. Eine Engelsfigur aus weißem Marmor wachte über der letzten Ruhestätte, bestimmt eineinhalb Meter hoch, ohne den Sockel gemessen, und auf der Schattenseite von einem moosgrünen Schimmer überzogen.
Fin geriet ins Grübeln. Konnten Engel eine Schattenseite haben?
Die Statue hatte den rechten Arm erhoben, doch was immer ihre Hand einst umklammerte, war verschwunden, gestohlen, abgebrochen. Ein Schwert, eine Lanze oder ein Kreuz, keine Spur mehr davon. Statt dessen sah es nun aus, als ob sie mit der geballten Faust drohte, als wolle sie die Hinterbliebenen verdammen oder gar zerschmettern oder wenigstens den Toten davon abhalten, wiederaufzustehen.
Die massive Grabplatte alleine hätte da allerdings schon genügt.
Ich schlafe nicht, ich wache Hiob
stand in großen Lettern über dem Namen und den Lebensdaten. Fin fand die Inschrift irgendwie passend, hegte er doch berechtigte Zweifel daran, dass Thomas Keane tatsächlich unter dieser Grabplatte ruhte. Abgesehen von dem Engel, der gewiss nicht billig gewesen war, war das Grab nüchtern und schmucklos, keine Blumen, wenn man die zwei Gänseblümchen ignorierte, die zwischen den Spalten der Steinplatte hartnäckig dem November trotzten. Keine Spur davon, dass in jüngster Zeit ein Besucher dagewesen war.
Plötzlich flatterte etwas über ihm. Er spürte einen Luftzug und duckte sich instinktiv. Ein Schatten strich über ihn hinweg, breitete seine schwarzen Flügel aus und landete zu Füßen des Engels.
Eine Krähe.
Fin rührte sich nicht. Er hatte noch nie einen dieser Rabenvögel so nahe erlebt. Die Krähen in den Dubliner Parks, die sich vorzugsweise um die Hinterlassenschaften der Touristen kümmerten, räumten zwar gerne Mülleimer aus oder stahlen auch mal was von einer unbewachten Picknickdecke, aber sobald sich ein Mensch näherte, waren sie auf und davon. Diese hier schien seine Anwesenheit überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil, mit schiefem Kopf und blanken Knopfaugen musterte sie ihn von oben bis unten. Schließlich schüttelte sie ihr blauschwarzes Gefieder, breitete die Schwingen aus und hob wieder ab, gerade so dicht an seinem Kopf vorbei, dass sie ihn nicht berührte.
Er drehte sich um. Die Krähe glitt tief übers Gras und verschwand im Dunst. Der ganze Friedhof schien mit einem Mal in undurchdringlichem Nebel zu versinken. Dicke Wolken kamen wie eine Lawine den Hügel herabgerollt und begruben alles unter sich. Geisterhaft ragten Grabsteine und Kreuze aus dem Nichts, die kleine Kirche war nur noch ein undeutlicher Schemen.
Fin hielt den Atem an. Ein gespenstisches Wesen kam direkt auf ihn zu, ein langer schwarzer Umhang, der bis zum Boden reichte, ließ es fast schweben. Und auf seiner Schulter saß ein großer schwarzer Vogel. Die Krähe.
Fin traute seinen Augen nicht. Dabei hatte er heute noch keinen einzigen Tropfen angerührt …
»Ich hoffe, Bran hat Sie nicht erschreckt. Er ist sehr neugierig, besonders Fremden gegenüber.« Die Stimme klang ausgesprochen real. Keine krächzende Hexe, kein Gesandter aus dem Totenreich.
Fin räusperte sich. »Er scheint keine Angst vor Menschen zu haben.«
Der Vogel hatte ihn weniger erschreckt als die Gestalt, die da auf ihn zukam.
»Bran ist zahm. Ich habe ihn gefunden, als er aus dem Nest gefallen war. Fast hätte ihn die Katze erwischt.« Ein älterer Mann in einem langen dunklen Gewand baute sich vor ihm auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Dermot Keelan. Ich bin der Pfarrer hier.«
Fin schüttelte seine Hand. »Fin O’Malley.«
»Sie interessieren sich für Thomas Keane? Kannten Sie ihn?«
Neugierige Krähen waren eine Sache, aber einen neugierigen Pfarrer konnte er gerade gar nicht gebrauchen. Foley hatte seine Spione überall. »Nur
Weitere Kostenlose Bücher