Die irische Meerjungfrau
Wasserkocher und Instantpulver in Reichweite.
Draußen spielte sich der Sturm schon mal warm. Ronan hatte mit seiner Wettervorhersage recht behalten. Als Ouvertüre fegte ein pfeifender Wind um die Hausecken, rüttelte an der Dachrinne und klatschte die ersten Regenböen gegen die Fensterscheiben. Im Garten drehte ein rotweißgestreiftes Badetuch seine Runden an der Wäschespinne. Das Ewige Licht flackerte nervös und verwandelte Marias zartes Antlitz in eine Fratze. Fin zog die Vorhänge zu.
Im Rahmen der Ermittlungen hatte New Scotland Yard die irische Gardai offiziell um Amtshilfe gebeten, aber Fins Chef, Superintendent Ramsay, glaubte nicht an die Keanes als Urheber dieses Coups. Seiner Meinung nach war Jack nach zehn Jahren nicht plötzlich aus der Versenkung aufgetaucht; von der Auferstehung eines Toten wollte er schon gar nichts hören. Wahrscheinlich war der rätselhafte Fingerabdruck auf dem Sicherungskasten noch vom ersten Besuch der Brüder vor zwölf Jahren zurückgeblieben, der Besitzer der Galerie war wohl zu geizig, anständiges Reinigungspersonal anzustellen, oder die englische Polizei hatte eben keine Ahnung von professioneller Spurensicherung. Trotzdem konnte er die Bitte aus London schlecht ignorieren, aber er maß ihr nicht allzu viel Bedeutung zu. Das merkte man daran, dass er Fin den Auftrag erteilt hatte, sich in Foley umzuschauen.
Als die Frage aufkam, wer nach Donegal fahren sollte, hatte Fin sich diskret hinter Petersens breitem Rücken versteckt, aber es war just in diesem Moment, als die Ratte Donovan laut bemerkte »Kommt Finbars Familie nicht aus dem Norden?«
Fin war völlig neu, dass seine Herkunft ihn für diese Aufgabe besonders qualifizieren sollte, aber ehe er sich versah, war die Sache entschieden. Zwar protestierte er noch, warf ein, dass seine Eltern nie auch nur einen Fuß nach Donegal gesetzt hatten, dass sie eigentlich aus Nordirland stammten und schon vor fast vierzig Jahren in die Republik übergesiedelt waren und er zum letzten Mal vor mehr als fünfzehn Jahren zur Beerdigung seiner Großmutter im Norden gewesen war. Außerdem redeten die in Donegal doch eh nur Gälisch und er würde kein Wort verstehen. Aber es nützte nichts. Ramsay lächelte jovial und meinte nur, der Auftrag sei doch eine wunderbare Gelegenheit, einen Abstecher in die alte Heimat zu machen und verwandtschaftliche Bande wieder aufzufrischen.
Fin war durchaus in der Lage, einen Tritt in den Arsch zu erkennen, wenn er einen bekam.
Die Wahrheit war nämliche eine andere: Sie wollten ihn los sein. Sie hatten ihn in den hintersten Winkel des Landes abgeschoben, damit er aus dem Weg war, wenn sich innerhalb der Abteilung mal wieder das Personalkarussell drehte. Im Dezember gab es einen neuen Posten zu besetzen, und Fin rechnete sich durchaus Chancen aus. Schließlich war er seit über zwanzig Jahren bei dem Haufen und bei der letzten Beförderung erst übergangen worden. Aber es war schwer, gegen die internen Seilschaften anzukämpfen, besonders wenn man hier in der Einöde auf dem Abstellgleis hockte und einen Auftrag am Hals hatte, der eigentlich keiner war.
Fin spülte den aufkommenden Ärger mit einem Schluck Kaffee hinunter. Seine Augen schielten zu seinem Rucksack hinüber, der am Stuhl unter dem Fenster lehnte und eine jungfräuliche Flasche Whisky beherbergte, aber sein Wille war ausnahmsweise stärker. Später vielleicht.
Er nahm eine Handvoll Fotos und warf sie einzeln vor sich auf die Bettdecke.
Jack und Thomas Keane.
Die Aufnahmen waren zehn Jahre alt, die meisten sogar noch älter. Wie sahen die beiden wohl heute aus – vorausgesetzt, Thomas war damals tatsächlich nicht als Fischfutter im Atlantik geendet. Was hatten sie all die Jahre getrieben? Hatten sie sich sehr verändert?
Fin starrte fast beschwörend auf eine Schwarzweißfotografie jüngeren Datums, als könne allein sein Blick eine Metamorphose bewirken und ihm das Bild zweier Menschen offenbaren, denen das Leben zehn Jahre draufgepackt hatte. Aber er sah nur zwei junge Männer, Anfang zwanzig, einander durchaus ähnlich. Beide hatten sie helle Haare, die fast bis zur Schulter reichten. Thomas war eine Spur blonder als sein Bruder; der Pony, der ihm mit verwegenem Schwung in die Augen fiel, ließ seine Gesichtszüge weicher erscheinen. Jack dagegen, drei Jahre älter, mit streng nach hinten gekämmtem Haar und Vollbart, war eher der harte, kantige Typ.
Fin zog den Laptop zu sich heran und rief sein Videoarchiv
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