Die irische Meerjungfrau
auf. Ein Nachrichtenfilm flimmerte auf, die Gebrüder Keane beim Verlassen des Gerichtsgebäudes, nachdem der Richter sie von allen Anklagepunkten freigesprochen hatte. Ein Reporter hielt Jack ein Mikrophon unter die Nase, aber Fin drehte den Ton ab. Er hatte den Film schon oft genug gesehen, er kannte Jacks arroganten Antworten auswendig. Er schaltete auf Zeitlupe, um die beiden Brüder eingehender zu studieren.
Jack, der Wortführer, stand wie immer im Vordergrund, sein jüngerer Bruder schweigsam in seinem Schatten. Für den Prozess hatte sich Thomas an einem Dreitagebart versucht, um erwachsener zu wirken – mit wenig überzeugendem Ergebnis. Selbst der finstere Blick täuschte nicht darüber hinweg, dass Thomas der Attraktivere der beiden war. Die lässige Geste, mit der er sich die blonden Strähnen aus der Stirn strich, die hellen, durchaus sanften Augen, das gutgeschnittene, sonnengebräunte Gesicht – er hätte das Zeug zu einem Popstar gehabt. Die Mädchen wären ihm scharenweise hinterhergelaufen.
Auch wenn Thomas nicht so tough wirkte wie sein großer Bruder, so war doch angeblich er es gewesen, der all die Coups ausgeheckt hatte. Wenn Jack der Macher war, war Thomas der Denker. Und ein ziemlich cleverer dazu.
Fin erinnerte sich mit einem leisen Lächeln an einen Vorfall, der als Kartoffelacker-Episode einen wenig ruhmreichen Platz in der Polizeigeschichte gefunden hatte.
Kurz nachdem die Keanes bei einer Geldwäsche die nicht unerhebliche Summe von umgerechnet einer Million Euro erwirtschaftet hatten, ließ die irische Gardai zum wiederholten Male ganz Foley mitsamt der dazugehörigen Halbinsel abriegeln und überwachen. Abriegeln war einfach – man musste nur einen Einsatzwagen mitten auf der einzigen Brücke parken. Eine Überwachung dagegen war schon aufwendiger. Jedes einzelne Telefon im Dorf wurde angezapft, um einen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Brüder oder wenigstens den Verbleib der Beute zu erhalten.
Nun hatten es sich Jack und Thomas zur lieben Gewohnheit gemacht, all die Jahre jeden Herbst den kleinen Kartoffelacker hinter dem Haus ihrer Großmutter umzugraben, seit die alte Dame dazu selbst nicht mehr in der Lage war. Das Wetter war ideal für Gartenarbeit, die Zeit drängte, aber es schien, als ob Oma Agnes im nächsten Jahr wohl auf ihre Kartoffeln würde verzichten müssen, als frühmorgens im kleinen Cottage das Telefon klingelte. Die noch schlaftrunkene Großmutter vernahm eine geheimnisvolle Stimme, die ihr riet, sie möge das Geld bloß im Garten liegenlassen und auf keinen Fall anrühren. Ein einziger Satz, mehr nicht, dann legte der unbekannte Anrufer auf.
Oma Agnes konnte mit dieser Information wenig anfangen, wohl aber die Detectives, die ihr Telefon abhörten. Innerhalb einer Stunde wimmelte es in ihrem Garten nur so von uniformierten Einsatzkräften, die bewaffnet mit Hacken und Schaufeln das Gelände umpflügten. Bis zum Abend hatten sie den Garten in ein Schlachtfeld verwandelt. Gefunden hatten die Beamten nichts, aber das Land war bestellt und Oma Agnes konnte ihre Kartoffeln legen …
Die Keanes hatten nie vergessen, woher sie kamen, und das erklärte auch die große Popularität, die sie in weiten Teilen der Bevölkerung genossen hatten. Viele soziale Einrichtungen hatte über Nacht ein rätselhafter Geldsegen ereilt, Naturschutzprojekte fanden unerwartet hohe Geldbeträge auf ihrem Spendenkonto, hier wurde ein längst geschlossenes Kino wieder eröffnet, dort ein marodes Fischerboot wieder hergerichtet. Überall wo Not am Mann war, tauchte aus unergründlichen Quellen ein kleiner Koffer mit Bargeld auf. Nicht nur in Foley.
Foley.
Fin seufzte.
Wenn Jack und Thomas Keane irgendwo untertauchen konnten, dann hier. Aber war es wirklich so einfach? Konnte jemand wirklich jahrelang unentdeckt in einem Dorf am Ende der Welt vor sich hin leben, als sei nichts gewesen? Als gesuchter Verbrecher? Gar als Toter?
Thomas Keane war der Schlüssel zu allem. Fin musste herausfinden, was vor zehn Jahren an Bord des Kutters wirklich geschehen war. Er öffnete die Datei M.S.Mairona und scrawlte durch die Protokolle von damals. War da nicht von einer zweiten Person die Rede gewesen, die die herbeigeeilte Küstenwache außer Jack gerettet hatte? Richtig, da war der Name. Joseph »Joey« MacGann. Fischer. Zweiundsechzig Jahre alt. Gestorben 2008. Mist, verdammter!
Fin überflog die angelegte Akte und blieb bei MacGanns Sohn hängen. Vielleicht wusste der ja
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