Die irische Meerjungfrau
was? Billy »Blue Boy« MacGann. Klang eher nach einem von Nora Nichols’ Kobolden. Was er dann aber las, war weniger märchenhaft. Billy war schon mit vierzehn straffällig geworden, mit siebzehn wanderte er zum ersten Mal in den Knast, mit zweiundzwanzig wurde er im Zusammenhang mit einem Bombenanschlag der IRA gesucht. In den späten Neunzigern verlor sich seine Spur irgendwo im Bermudadreieck zwischen Belfast, Dublin und Foley.
Gegen Ende des Protokolls stieß Fin auf einen unerwarteten Eintrag. Tatsächlich hatte man Billy »Blue Boy« MacGann 1983 zum Verschwinden von Shergar befragt. Damals war er gerade neunzehn und seit einem Monat wieder auf freiem Fuß. Aber er hatte ein Alibi. Zur fraglichen Zeit hatte er seine Tante zu ihrer Schwester chauffiert, die in einem Pflegeheim bei Galway lebte. Die Tante hatte seine Aussage bestätigt, sogar die Schwester, die an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium litt, hatte sich genau erinnert.
Fin schnaubte verächtlich. Ein Neunzehnjähriger, der seine Tante über hundert Kilometer zum Kaffeeklatsch in die Klapse kutschierte …
Wahrscheinlich hockte auch Billy »Blue Boy« MacGann hinter irgendeinem warmen Ofen hier in Foley.
Fin musste aufpassen, wohin er bei seinen Nachforschungen trat. Das ganze Dorf war ein Minenfeld, gespickt mit Fußangeln. Am Ende hatte er noch die IRA am Hals. Vielleicht hatte sein Boss ja recht gehabt und der Fingerabdruck führte tatsächlich nirgendwohin, vielleicht war es wirklich eine Schnapsidee gewesen, hierherzukommen.
Apropos Schnaps.
Er stand auf, schnappte sich seinen Rucksack und zog die Whiskyflasche hervor. Jetzt hatte er sich einen großen Schluck verdient.
Draußen tobte der Sturm in Allegro furioso , rüttelte an den Fensterscheiben und jagte einen unvorsichtigen Blecheimer die Straße hinunter. Fin glaubte von fern das Donnern der Brandung zu hören, aber es war nur der Regen, der sich zu einem Wolkenbruch aufplusterte und die Dachrinne überschwemmte.
Er krabbelte zurück aufs Bett und nippte an seinem Zahnputzbecher.
Ein Rennpferd konnte vielleicht einfach so von der Bildfläche verschwinden. Aber ein Thomas Keane?
6. Malcom Keane
Der nächste Morgen überraschte mit strahlend blauem Himmel. Nur ein kalter kräftiger Wind erinnerte an die stürmische Nacht. In der klaren Luft sah die Landschaft aus wie frisch geduscht.
Fin war wieder versöhnt mit der Welt. Gestärkt mit einem ausgiebigen Frühstück trat er vor die Tür und sog gierig den Sauerstoff in seine Lungen. Die Sonne war eben über den Hügelkamm gekrochen und badete das Dorf samt Kirche und Friedhof in ihrem warmen herbstlichen Licht. Der Blick ging weit aufs Meer hinaus. Wäre die Erde eine Scheibe, man hätte die Freiheitsstatue von New York gesehen.
Im Gedenken an die Blasen an seinen Füßen verzichtete Fin auf einen weiteren Fußmarsch und nahm das Auto. Auch weil er Malcolm Keane aufsuchen wollte, den Vater von Jack und Thomas. Der ehemalige Abgeordnete wohnte auf dem Festland, einige Meilen von der Küste entfernt und damit weit außerhalb des kriminellen Dunstkreises von Foley. Malcolm Keane hatte sich stets entschieden von den Taten seiner Söhne distanziert und sie angeblich schon enterbt, als die beiden noch keine zwanzig waren. Es war nicht anzunehmen, dass die beiden irgendwelchen Schaden dadurch genommen hatten noch dass sie reumütig in den Schoß der Familie zurückgekehrt waren. Fin hatte eigentlich keine Ahnung, was er sich von diesem Besuch erhoffte, außer vielleicht einigen intimen Details aus dem Leben der Brüder. Aber manchmal waren familiäre Bande durchaus für die eine oder andere Überraschung gut. Man sagte nicht ohne Grund, Blut sei dicker als Wasser.
Foley bot ein Bild immerwährenden Friedens. In der Sonne leuchteten die bunten Fassaden mit den letzten Überbleibseln sommerlichen Blumenschmucks um die Wette. Ein paar Möwen zogen keifend ihre Kreise über dem Hafenbecken, als wollten sie die Fischer ermuntern, endlich rauszufahren. An einer Ecke spielte eine Handvoll Jungens Fußball. Hier wurde ein Stück Straße gefegt, dort ein Auto poliert. Mitten auf der einzigen Kreuzung lag ein kleiner Hund und genoss schläfrig den warmen Asphalt. Fin kurvte vorsichtig um ihn herum. Er erkannte den dreibeinigen Terrier. Wenn er weiter so leichtsinnig war, wäre er bald ein zweibeiniger Terrier.
Die Idylle schien geradewegs einem Bilderbuch entliehen, aber Foley war kein Dorf wie jedes andere. Das wurde Fin wieder
Weitere Kostenlose Bücher