Die irische Meerjungfrau
Der Felsen fiel steil ins Meer hinab, als hätte ihn jemand mit der Axt bearbeitet. Tief unter ihm lagen scharfkantige Brocken am Ufer, umspült von weißschäumender Gischt. Möwen schossen wie Pfeile über den Himmel, ihre Schreie waren im Tosen der Brandung kaum zu hören. Im Frühling, wenn Tausende die Felswände mit ihren Nestern überzogen, würde das anders sein.
Die Sonne stand schon tief im Westen, an den Rändern des makellos blauen Himmels begann bereits das Abendrot zu nagen. Es war Zeit für einen Sundowner .
Fin fand eine einigermaßen windgeschützte Ecke hinter einem Felsen und ließ sich nieder. Normalerweise war er nicht der Typ, der sich eine Dreiviertelliterflasche an den Hals hängte, aber da er nun mal kein Glas hatte, musste es auch so gehen.
Eine ganze Weile hockte er so da und schaute den Wellen zu. Es hatte etwas ungemein Beruhigendes. Je länger er aufs Meer starrte, desto mehr Einzelheiten fielen ihm auf. Er entdeckte, dass außer den schnöden weißen Möwen noch andere Seevögel unterwegs waren. Kormorane, die auf Felsen hockten und mit ausgebreiteten Schwingen ihr Gefieder trockneten. Und er hätte wetten mögen, dass die kleine Bewegung dort unten auf der Klippe ein Seehund war. Er beobachtete zwei Flugzeuge auf ihrem Weg nach Amerika, ihre Kondensstreifen leuchteten rosa im satten Blau des frühen Abendhimmels. Ihre scharfen Linien kreuzten die ausgefransten Bahnen vorangeflogener Flugzeuge, bis auch sie sich irgendwann im endlosen Nichts auflösen würden.
Er fand, dass das ganze Firmament aussah wie ein himmlischer Schnittmusterbogen, eine geheime Anleitung zum Glücklichsein aus Gottes eigener Werkstatt. Man musste sie nur noch übersetzen und verstehen. Aber wie so oft, wenn man Gebrauchsanleitungen aus einer fremden Sprache übersetzte, kam am Ende nur Kauderwelsch heraus. Er fragte sich, wann er selbst wohl seine ultimative Übersetzung finden würde.
Er nahm noch einen Schluck und lehnte sich gegen den Felsen, den die Sonne den ganzen Tag über gewärmt hatte. Er dachte an die Meerjungfrau. Er nannte sie so, weil er keinen anderen Namen für sie hatte, und es außerdem so schön geheimnisvoll klang. Was war das für eine Frau, die am einen Tag wie eine mystische Märchengestalt auf einem Pferd daherkam und anderntags auf einem Motorrad durch die Gegend bretterte? Er war sich sicher, dass sie in Foley lebte, dort herrschte beileibe kein Mangel an skurrilen Gestalten. Er musste an einen uralten schwarzweißen Science-Fiction-Film denken, in dem eine Schar merkwürdiger Kinder aus einem Dorf gefangen gehalten wurde, weil sie verseucht waren. Entweder durch Radioaktivität oder weil Außerirdische ihre Hände im Spiel hatten, Fin war sich nicht mehr ganz sicher. Aber er konnte sich die Bewohner von Foley gut als Außerirdische vorstellen.
Nein, jetzt ging doch die Phantasie mit ihm durch.
Er pfropfte den Korken auf die Whiskyflasche und ließ sie im Rucksack verschwinden. Es wurde doch schneller dunkel als er gedacht hatte. Die Sonne verschwand hinter den aufziehenden Wolken, es wurde Zeit, dass er wieder ins Warme kam. Außerdem hatte er Hunger.
Er schulterte den Rucksack und machte sich auf den Rückweg. Als er über die Felskuppe trat, sah er schon sein Auto auf der anderen Seite des Damms stehen. Und er sah noch etwas anderes. Jede Menge Wasser zwischen sich und seinem Auto.
Er blieb stehen und traute seinen Augen nicht. Dort wo vor kurzem noch ein Fahrweg zur Leuchtturminsel geführt hatte, war nichts als Wasser. Der Damm war verschwunden, von der Flut überspült.
Fin ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten.
»Scheiße! …«
Das konnte nicht wahr sein! Bitte, lieber Gott, lass es nicht wahr sein!
Aber alles Beten und Fluchen half nichts. Er saß fest. Er musste warten, bis die Flut zurückging. Aber wie lange dauerte so was? Er war ein Stadtmensch – woher sollte er das wissen? Er sah auf die Uhr, als ob er dort die Antwort finden könnte. Leichte Panik überkam ihn. Er konnte unmöglich die ganze Nacht auf diesem Felsen verbringen. Dazu war es viel zu kalt.
Vorsichtig stapfte er in der aufkommenden Dämmerung hinunter bis zu der Stelle, wo der Damm begann. Vielleicht stand das Wasser ja noch gar nicht so hoch, wie es von oben aussah. Vielleicht konnte er noch hinüber waten, auch auf die Gefahr hin, seine Schuhe endgültig zu ruinieren. Mutig wagte er einen ersten Schritt. Das Meerwasser war wie erwartet eiskalt. Er überlegte noch, ob es klüger
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