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Die irische Meerjungfrau

Die irische Meerjungfrau

Titel: Die irische Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Roemer
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nicht aufgefallen war. Zwei verwitterte Schilder zeigten in die jeweils entgegengesetzte Richtung, auf dem einen stand Foley, auf dem anderen eine scheinbar willkürliche Reihe von Buchstaben, die er für die gälische Übersetzung desselben Namens hielt, da es sonst auf der Insel keine weiteren Ansiedlungen gab. Fin erinnerte sich an die Tradition, Menschen in die Irre zu führen, und schaute lieber auf seine Straßenkarte. Die besagte, dass die eine Straße, die er kannte, ihn direkt nach Foley brachte, während die andere in einem Bogen um die Halbinsel herumführte und dann das Dorf von Norden erreichte.
    Fin entschied sich für die unbekannte Strecke. Das Wetter war schön, und bis zum Abendessen hatte er genug Zeit zum Totschlagen. Außerdem bot Autofahren die perfekte Möglichkeit zum Nachdenken.
    Die Ostküste der Halbinsel machte einen sanfteren Eindruck, die Berge waren nicht ganz so hoch, die sandigen Buchten dafür umso breiter. Auch dieses Terrain hatten Schafe für sich erobert. Sie grasten am Straßenrand oder hatten ihr Domizil gleich auf dem Asphalt aufgeschlagen, wo sie wiederkäuend im Weg lagen und ihn gelangweilt bis entrüstet anglotzten, wenn er den Wagen vorsichtig an ihnen vorbeimanövrierte. Wahrscheinlich kam auf dieser Straße nicht jeden Tag ein Auto vorbei. Wobei ihm der Begriff Straße für diesen geteerten Feldweg eher wie ein Kosewort erschien.
    Keine Menschenseele begegnete ihm. Zweimal stieß er auf eine Kreuzung, die in der Karte gar nicht eingezeichnet war, und prompt bog er zweimal falsch ab und landete auf einer Weide im Nirgendwo.
    Irgendwann endlich kam ihm die Gegend bekannt vor. Er hatte Cape Cloud erreicht, die Nordspitze der Halbinsel. Hier war er an seinem ersten Tag gewesen, hier hatte er die versteinerten Mönche bewundert, und dort drüben war der alte Leuchtturm. Bei schlechtem Wetter rollten hier die Wolken die Berge hinab und rotteten sich vor der Küste zu schier unüberwindlichen Barrieren zusammen. Unterschiedliche Meeresströmungen, die sich vor der Landspitze trafen, verhinderten, dass sie in die eine oder andere Richtung abziehen konnten. So hatte die für die Schifffahrt gefährliche Konstellation dem Kap zu seinem eher poetischen Namen verholfen.
    Fin bog von der Straße ab und parkte den Wagen kurz vor dem gemauerten Damm, der das Festland mit einer kleinen vorgelagerten Felseninsel verband, auf deren Mitte der Leuchtturm thronte. Es war kein Leuchtturm, wie man ihn sich als Kind meistens vorstellte, ein großer schlanker Turm, weiß mit roten oder schwarzen Streifen. Es war vielmehr ein massives Haus, an dessen Stirnseite man einen runden Turm geklebt hatte, der in einer Laterne für das Leuchtfeuer endete. Er war nicht mal besonders hoch, überragte den Giebel des Hauses kaum, aber durch die exponierte Lage mitten auf dem Felsbrocken reichte sein Signal einige Meilen aufs Meer hinaus. Jetzt bei Tageslicht war er durch seinen strahlend weißen Verputz schon von weitem gut zu erkennen.
    Fin schaltete den Motor aus. Es sprach nichts gegen einen kleinen Spaziergang, um sich Appetit fürs Abendessen zu holen. Nur einmal kurz hinüber zum Leuchtturm, die Wanderschuhe konnte er getrost im Auto lassen.
    Der Wind blies scharf und zauste seine Haare, als er ausstieg. Dieses Mal dachte er an seinen Schal. Er überlegte, den Rucksack im Auto zu lassen, schwang ihn sich aber dann doch über die Schulter. Vielleicht fand sich irgendwo ein windgeschütztes Plätzchen mit Blick aufs Meer, wo er in aller Ruhe einen guten Schluck genießen konnte. Er sollte nur endlich mal den Whisky in seinen Flachmann umfüllen, sonst würde er bis zum Ende aller Tage mit der Flasche im Rucksack rumlaufen.
    Der schnurgerade Damm war etwa hundert Meter lang und breit genug, dass ein Wagen drüberfahren konnte. An seinem Ende kletterte ein unbefestigter Weg vom Ufer hinauf in Richtung Leuchtturm. Der Boden war feucht und aufgewühlt von Reifenspuren und Hufabdrücken, wahrscheinlich hielten die Schafe auch dieses Eiland okkupiert. Es ging kurz und steil bergauf, dann verlor sich der Weg in einer windzerzausten Wiese. Eine Linie niedergetretenen Grases führte direkt zum Leuchtturm, aber Fin ging weiter geradeaus zum Ende der Insel. Der ganze Felsen mochte vielleicht einen halben Kilometer breit sein, und er brauchte nicht lange, bis er am Rande der Klippen stand und den ungehinderten Blick auf den Atlantik genoss. Der Wind wehte kalt und heftig, aber die Aussicht entschädigte für alles.

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