Die irische Meerjungfrau
Flüssigkeit in seinem Glas und nahm einen kleinen Schluck. »Ich verstehe bis heute nicht, was passiert ist. Jack, der Ältere, war als kleiner Junge ein richtiger Raufbold. Ging in der Schule keiner Prügelei aus dem Weg. Aber das ist doch nicht weiter ungewöhnlich, oder? Tommy dagegen, der war das komplette Gegenteil. Der hockte am liebsten zu Hause, las in irgendeinem Buch oder zeichnete. Er mochte Tiere. Das Foto da, sehen Sie.« Er wies mit dem Stock auf den Kaminsims. »Da war er elf Jahre alt. Der kleine Hund auf seinem Arm hieß Snoopy. Wie bei diesen amerikanischen Trickfiguren. Wie hießen die noch gleich?«
» Peanuts «, half Fin aus.
»Richtig. Die Peanuts . Tommy zeichnete selber kleine Cartoons. Er war ziemlich gut darin.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er …«
Fin betrachtete die kleine Fotogalerie auf dem Kaminsims. Es fiel auf, dass von Jack und Thomas nur Kinderfotos dastanden, keine einzige Aufnahme, die sie als Erwachsene zeigte.
»Die beiden haben sich sehr nahe gestanden.«
»Tommy hat Jack vergöttert. Und Jack hat seinen kleinen Bruder immer und überall beschützt. Hat sich für ihn geprügelt, wenn es sein musste. Aber er hatte einen schlechten Einfluss auf ihn.«
»Ihre Frau ist früh gestorben, wenn ich mich recht erinnere.«
»Maggie starb, als Jack zwölf war und Thomas neun. Krebs«, gab Keane bereitwillig Auskunft, »mag sein, vielleicht war ich ein schlechter Vater. Ich war viel unterwegs, die Woche über fast nur in Dublin. Ich war Abgeordneter, wie Sie vielleicht wissen.«
Fin nickte. »Aber das macht Kinder nicht automatisch zu Gangstern«, wandte er ein, »oder hatten am Ende Ihre Söhne einfach nur andere politische Ansichten als Sie? Ich meine, was zum Beispiel die Verteilung von Hab und Gut angeht.«
»Detective O’Malley, ich war zwar zu meiner aktiven Zeit sogar innerhalb meiner Partei als Hardliner verschrien, das gebe ich offen zu«, sagte Malcolm Keane, »und an meiner Haltung hat sich bis heute nichts geändert. Wir können uns keinen Wohlfahrtsstaat leisten, der jeden Faulpelz durchschleppt. Aber meine politische Meinung für die Entwicklung meiner Söhne verantwortlich zu machen, wäre wohl zu einfach.«
»Nun, eine unglückliche Kindheit kann es nicht gewesen sein, wenn ich mich hier so umschaue.«
Der Alte zuckte mit den Achseln. »Sie hatten alles, was sie brauchten, und sogar noch mehr. Aber ich hätte es wissen müssen. Mein Vater hatte mich gewarnt.«
»Gewarnt?«
»Ihre Mutter stammte aus Foley. Diesem Piratennest«, spuckte er verächtlich aus, »verstehen Sie mich nicht falsch, Detective, Maggie war eine wunderbare Frau und herzensgute Mutter. Aber vielleicht lag es an den Genen …«
Fin leerte sein Glas. Wenn alles immer so einfach wäre.
»Darf ich fragen, woher dieses plötzliche Interesse an meinen Söhnen rührt? Nach zehn Jahren?«
Fin erzählte ihm von dem Kunstraub in London.
Der alte Mann nickte zustimmend. »Ja, passen würde es zu den beiden. Aber wenn Sie glauben, sie hier unter diesem Dach zu finden, sind Sie an der falschen Adresse.«
»Sie würden Ihre Söhne der Polizei ausliefern?«
»Nein.« Es war ihm anzusehen, dass er die Verbitterung über sein eigen Fleisch und Blut schon vor langer Zeit zu Grabe getragen hatte. »Ich würde sie erschießen.«
Fin glaubte es ihm sogar.
7. Cape Cloud
Während der Rückfahrt fragte sich Fin, wie zwei Jungs aus einer gutsituierten Familie derart auf die schiefe Bahn geraten konnten. Vielleicht hatte Malcolm Keane ja recht, vielleicht steckte es wirklich in den Genen.
Die Kindheit der Brüder war völlig normal verlaufen, abgesehen vom frühen Verlust der Mutter. Die Gründe für Jacks und Thomas’ Rebellion gegen den Vater und den Rest der Welt mussten wohl in der Pubertät liegen. Oder aber sie waren später, während des Studiums an der Universität von Galway in schlechte Gesellschaft geraten. An Universitäten hingen doch genug subversive Elemente herum, Alkohol und Drogen waren an der Tagesordnung.
Fin merkte, dass er entschieden zu viele Vorurteile mit sich herumschleppte.
Vielleicht lohnte ein Abstecher nach Galway, vielleicht konnte er ein paar ehemalige Kumpel der Keane Brüder auftreiben, Kommilitonen oder verflossene Freundinnen, zu denen sie noch Kontakt hatten. Irgendwo musste es doch einen Haken geben, an dem er seine Nachforschungen aufhängen konnte.
Hinter der Brücke gabelte sich die Straße, was Fin zuvor gar
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