Die irische Meerjungfrau
so geringes Detail auslassen wollte. Entweder war es die Wahrheit, die er da gerade hörte, oder Billy MacGann war ganz nach alter irischer Tradition ein verdammt guter Geschichtenerzähler.
»Micky hatte sich eine druckfrische Zeitung besorgt. Sagte, wir bräuchten für die Lösegeldforderung ein Foto, das bewies, dass wir Shergar in unserer Gewalt hatten. Machte ein Foto von dem Hengst zusammen mit der Zeitung. Shergar war Blitzlicht durchaus gewohnt, doch ich würde nicht behaupten, dass es ihn beruhigte. Es verging eine Menge kostbarer Zeit bis wir drüben am Damm waren.« Er wies mit dem Kopf auf die Insel mit dem Leuchtturm. »Als wir dort ankamen, wo wir ihn verstecken wollten, stellten wir fest, dass die Flut den Damm schon fast überspült hatte. Außerdem war der Lkw zu breit. Wir konnten nicht hinüberfahren. Gavin meinte, wir müssten Shergar ausladen und zu Fuß rüberbringen, solange das Wasser noch nicht zu hoch war.«
Er hielt inne, betrachtete seine abgebrannte Zigarette, als überlegte er, ob sie wohl noch einen letzten Zug wert war. »Es war stockfinstere Nacht. Es war Anfang Februar. Schnee lag in der Luft. Shergar hatte in seinem Leben nichts anderes gesehen als die Rennbahn und seinen warmen Stall. So was wie das Meer kannte er gar nicht. Schon die Geräusche machten ihm Angst. Das Rauschen der Wellen. Er geriet in Panik. Drehte völlig durch. Wir haben ihn mit drei Männern festgehalten, aber es war zwecklos. Micky hats am Schlimmsten erwischt. Ihm hat er das Schienbein zertrümmert. Mich hat er am Kopf erwischt.« Er fuhr mit einem Finger über die dünne Narbe auf seiner Stirn. »Ich hab nur noch gesehen, wie Gavin durch die Luft geflogen ist und dann war der Gaul auf und davon.« Er seufzte fast schon erleichtert. »Den hätte der Teufel persönlich nicht halten können.«
»Und dann?« Fin konnte es sich beinahe denken.
Als Antwort schnippte Billy seine Kippe über die Felskante. »Weg war er …«
Es war alles gesagt, was zu sagen war. In ihr Schweigen mischten sich die keifenden Rufe einer Handvoll Möwen, die sich unterhalb der Klippen zankten. Von hier oben erschienen sie klein wie Schneeflocken. Der Wind hatte nachgelassen, Fin kam die Kälte nicht mehr ganz so grimmig vor. Vielleicht zitterte er auch deshalb weniger, weil er nicht mehr das Gefühl hatte, dass Billy MacGann ihm nach dem Leben trachtete. Schließlich hatte der Mann nichts zu befürchten, die Tat war verjährt. Außer einem bedauernswerten Pferd war niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, wenn man davon absah, dass ein paar Anleger ein wenig Geld verloren hatten, aber über so was las man heute fast täglich im Wirtschaftsteil irgendeiner Zeitung.
Vorausgesetzt, es hatte sich tatsächlich alles so zugetragen. Beweise gab es letztlich keine.
»Ne hübsche Geschichte.«
»Es ist die Wahrheit.«
»Es ist Ihre Wahrheit«, erwiderte Fin mutig.
»Es gibt keine andere.«
Nun, sie war zumindest glaubhafter als die Version von Nora Nichols. Aber eigentlich auch wieder viel zu einfach.
»Und die Keanes?«
»Die Keanes?« Billys blaue Augen blickten ehrlich irritiert.
»Hatten die beiden was damit zu tun?«
Billy schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber Sie kennen Jack und Thomas?«
»Natürlich kenne ich die zwei«, antwortete er. »Und um die Sache gleich ein wenig abzukürzen – ich habe nie mit ihnen zusammengearbeitet und ich habe keine Ahnung, wo Jack steckt.«
»Und Thomas?«
»Thomas ist tot.«
Die Antworten kamen schnell und überzeugend. Billy griff wieder zu seinem Zigarettenpäckchen, aber er zögerte. Schien zu überlegen, ob es sich noch lohnte, eine anzustecken. Das Gespräch neigte sich dem Ende.
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, wollte Fin wissen.
Billy blickte aufs Meer hinaus, das Kinn selbstbewusst nach vorn gereckt, die Hände in den Jackentaschen vergraben. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich plötzlich nen Beichtvater brauche, um mir den ganzen Scheiß endlich von der Seele zu reden.« Er grinste Fin an. »Aber ich habe es allmählich satt, dass ständig jemand hier rumschnüffelt und die alte Geschichte wieder aufwärmt. Egal ob Reporter oder Bulle.«
Fin zuckte beim letzten Wort zusammen. Wusste Billy Bescheid?
»Ich kann es mir einfach nicht leisten. Es ist langsam geschäftsschädigend.«
»In welcher Branche arbeiten Sie?« Die Frage war unklug, wenn nicht sogar tollkühn. Aber es war zu spät, sie zurückzunehmen.
Wider Erwarten erhielt er eine Antwort. Auch wenn es nur
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