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Die irische Meerjungfrau

Die irische Meerjungfrau

Titel: Die irische Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Roemer
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befürchtet hatte. Das ganze Dorf steckte unter einer Decke.
    Aber vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte er den Abtransport des Bildes noch verhindern.
    Er stieg die Treppe wieder hinab in den Wohnbereich und blieb unschlüssig im Flur stehen. Wohnzimmer. Schlafzimmer. Bad. Küche. Welche Räume gab es noch, von denen er gar nichts wusste?
    Er warf einen Blick ins Wohnzimmer, versuchte von der Tür aus im matten Licht der Flurbeleuchtung etwas zu entdecken, versuchte sich die Einrichtung bei Tageslicht vorzustellen, versuchte sich in die Person hineinzuversetzen, die hier etwas verstecken wollte.
    Etwas berührte sein Bein. Er fuhr zusammen. Die Katze fixierte ihn mit ihren grünen Augen, maunzte ihn an und rieb ihren Kopf an seinem Knie.
    »Na, Mieze, kannst du mir nicht verraten, wo der Van Gogh steckt?« Zaghaft kraulte er sie hinter den Ohren.
    Die Katze entwand sich seiner Hand, lief ein Stück in Richtung Küche und drehte sich nach ihm um. Gerade so als ob sie ihm etwas zeigen wollte. Nicht den Van Gogh. Eher den leeren Futternapf.
    Fin kam zu dem Schluss, dass auch das Wohnzimmer kein potentielles Versteck bot, aber vielleicht hatte er im alten Büro der Leuchtturmwärter mehr Glück. Vorsichtig öffnete er die Tür und betätigte den Lichtschalter, doch wie schon am Morgen blieb der Raum dunkel. Er ärgerte sich schon, dass er das Ewige Licht im Auto gelassen hatte, als er auf einem der beiden Schreibtische eine Lampe entdeckte. Die müde Funzel reichte gerade, um sich bei Schreibarbeiten die Augen zu verderben, aber sie war besser als nichts und von draußen bestimmt nicht zu sehen.
    Am Morgen hatte er den Raum nur oberflächlich durchsucht, aber auch hier war etwas anders. Das Fernglas hatte nicht auf dem Fensterbrett gestanden, ebenso wenig wie das Radio auf dem leeren Aktenregal. Nein, das war gar kein Radio. Es war ein Funkgerät, vielleicht nicht das neuste Modell, aber wahrscheinlich absolut funktionstüchtig und im Gegensatz zu vielem anderen im Raum definitiv nicht zugestaubt.
    Überhaupt bot der Staub eine Fülle von Spuren, wenn man nur genauer hinschaute. Fin nahm die Schreibtischlampe und richtete den Schirm so aus, dass der Lichtschein im flachen Winkel auf Regale und Tischplatten fiel. Eine wahre Fundgrube an Fingerabdrücken tat sich auf. Natürlich waren auch seine eigenen vom Morgen darunter, aber in Anbetracht der Menge war klar, dass dieses längst aufgegebene Büro in letzter Zeit einen regen Besucherstrom erlebt hatte. Er ließ den Lampenschein über Wände und Schränke wandern und blieb schließlich an der Seekarte hängen.
    Der Glasrahmen war übersät von Fingerabdrücken.
    Die Größe passte.
    Er holte sich die Lampe heran, soweit es das Kabel erlaubte, nahm den Rahmen von der Wand und drehte ihn um.
    Wenn man wusste, wo man suchen musste, war alles ganz einfach.
    Behutsam legte er den Rahmen mit der Vorderseite nach unten auf die Schreibtischplatte. Die Leinwand, dick und hart von üppig aufgetragenen Ölfarben, war mit kleinen Holzkeilen auf der Rückseite befestigt.
    Es war ein überraschend düsterer Van Gogh. Ein Werk aus den holländischen Jahren, gemalt irgendwann in den frühen Achtzigern des neunzehnten Jahrhunderts. Schwere, erdige Töne dominierten das Bild, kein Vergleich zu seiner späten Periode, als reine, kräftige Farben auf fast schon surreale Weise seine Arbeit beherrschten. Die einzige Lichtquelle war der Heiligenschein des Knaben in der Krippe, der den Gesichtern der Menschen um ihn herum Kontur verlieh. Die Gewänder der Figuren, egal ob Hirten, Könige, Maria oder Josef, alle waren sie von dunklem Braun, Grau oder gar Schwarz, der Stall ein finsterer Verschlag. Nicht einmal die Gaben der drei Weisen aus dem Morgenlande stachen besonders hervor.
    Was hatte er erwartet? Balthasar mit einem Strauß Sonnenblumen in der Hand?
    Die Gesichtszüge der Protagonisten wirkten grobknochig, in wenigstens drei Fällen eher bäuerlich als königlich. Wie mit einem dicken Pinsel rasch auf die Leinwand geworfen, eine flüchtige Skizze und vielleicht gerade dadurch so lebendig. Fin hatte in seinen Akten gelesen, dass Vincent Van Gogh selten größere Menschenansammlungen gemalt hatte. Schon deshalb war das an sich unspektakuläre Bild eine kleine Sensation.
    In der rechten unteren Ecke prangte die unverkennbare Signatur des Künstlers. Daneben bunte Farbreste, Spuren des Letzten Abendmahls, unter dem ein anderer Künstler den großen Meister versteckt

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