Die irische Meerjungfrau
obligatorische Kreuzigung, links daneben die finstere Verheißung von Höllenqualen, rechts dagegen in leuchtenden Farben die Wonnen des Paradieses.
Hatte er nicht auch eine Darstellung des Letzten Abendmahls gesehen? Er versuchte sich genau zu erinnern. Drehte und wendete das Faltblatt. Er war sich seiner Sache sicher. Aber nirgends ein Bild von Jesus mit seinen Jüngern. Keine Andeutung im Text. Nichts.
Fin ließ die Broschüre sinken. Siedend heiß wurde ihm klar, was das bedeutete. Ein Triptychon bestand üblicherweise, wie der Name schon sagte, aus drei Tafeln. Er aber hatte vier gesehen. Das war genau eine Tafel zu viel. Ein Bild, das dort nicht hingehörte.
Wo versteckte man eine gestohlene Kuh besser als in einer Rinderherde?
Unter dem Letzten Abendmahl verbarg sich nichts Geringeres als Vincent Van Goghs Anbetung der Heiligen Drei Könige. Fachmännisch übermalt von jemandem, der mit Pinsel und Farbe umgehen konnte und dem das Genre der Heiligenbilder nicht fremd war. Von einem Restaurator beispielsweise. Oder einer Restauratorin.
Fin schloss die Augen. Massierte mit festen Fingern seine Stirn. Wollte Daumen und Zeigefinger in seinen Schädel hineinrammen. Nein, bitte lass es nicht wahr sein!
Bis jetzt hatte er keinerlei Verbindung zwischen Charlotte und dem Kunstraub gesehen. Allenfalls Vermutungen. Aber hier war sie. Direkt vor seinen Augen.
Er musste zur Kirche. Jetzt sofort. Auf der Stelle. Er schnappte sich seine Autoschlüssel und stürmte los.
Draußen war es dunkel geworden. Die Aussicht, zum wiederholten Male in der Finsternis herumzugeistern und noch dazu auf einem Friedhof, war alles andere als verlockend. Er hatte nicht mal eine Taschenlampe, und um in O’Connors Laden vorbeizuschauen, dazu fehlte ihm die Zeit. Kurzentschlossen griff er sich das Ewige Licht vom Sockel der Marienstatue und hoffte, dass Mrs. MacCormack es nicht so bald vermisste. Und dass ihm von Unserer Lieben Frau von der Toreinfahrt Vergebung widerfahren möge.
Er raste los. Brauste durchs Dorf. Fand die Abzweigung, die zur Kirche hinaufführte. Denselben Weg, auf dem ihm der schwarze Geländewagen zum ersten Mal begegnet war. Auf halber Strecke schaltete er die Scheinwerfer aus. Er sah gerade eben so viel, um den Wagen auf der schmalen Straße zu halten. Schließlich war es nicht nötig, den Argwohn neugieriger Dorfbewohner zu wecken.
Vor dem Tor zum Friedhof parkte er, stieg aus und tastete sich durch die Nacht. Die Kerze schirmte er sicherheitshalber mit einer Hand ab, auch wenn sie bei weitem nicht das Licht einer Taschenlampe ersetzte, die ihn möglicherweise hätte verraten können. Hell genug, dass er nicht auf die Nase fiel.
Soweit war es also mit ihm gekommen. Schlich nachts über einen Friedhof mit der festen Absicht, in eine Kirche einzubrechen. Er war von Berufs wegen für solche Fälle ausgerüstet, besaß ein bescheidenes Sortiment an Dietrichen, aber er stellte fest, dass er nichts dergleichen brauchte.
Die Kirche war offen.
Das konnte allerdings nur eines bedeuten – der Van Gogh war weg.
Das Portal ließ sich wider Erwarten ohne dramatisches Quietschen oder Knarren öffnen. Er wagte nicht, die Deckenbeleuchtung einzuschalten, doch wenn es in einer Kirche etwas in Mengen gab, dann mit Sicherheit Kerzen. Mit Hilfe des Ewigen Lichts entzündete er gerade so viele, dass er sich zurechtfinden konnte. Da drüben war der Altar und davor lehnten, unter der staubigen Decke, die Einzelteile des Yeatsschen Triptychons. Fin brauchte gar nicht durchzuzählen, er sah mit einem Blick, dass eine Tafel fehlte.
Er war zu spät gekommen.
Kreuzigung. Hölle. Paradies. Das Letzte Abendmahl war verschwunden. Er ließ den Blick einmal durch den dämmrigen Kirchenraum schweifen, suchte nach möglichen Verstecken, aber er wusste, dass er den Van Gogh nicht finden würde. Nicht hier.
Er ließ sich langsam auf einen der Holzstühle nieder und fluchte leise. Er war dem Van Gogh so nah gewesen … Dass das Gemälde nicht mehr in der Kirche war, konnte zweierlei bedeuten. Entweder die Diebe fürchteten, dass er ihnen auf der Spur war und hatten es woanders versteckt. Oder das Bild hatte bereits den Besitzer gewechselt. War außer Landes geschafft worden. Vielleicht auf einem kleinen Motorboot. Genau vor seiner Nase.
Nein, so schnell gab er nicht auf. Wenn der Deal schon über die Bühne gegangen war, hätte man ihn nicht mit Warnschüssen ausbremsen müssen.
Billy MacGann wollte ihn von Charlotte fernhalten.
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