Die irische Meerjungfrau
hatte, wieso ging sie dann mit ihm, Fin, ins Bett?
Je mehr Antworten er fand, desto mehr Fragen taten sich auf.
Er blickte sich um. Der große, klobige Kleiderschrank zog ihn magisch an. Auf alles gefasst riss er die beiden Flügeltüren auf. Wider Erwarten keine Leiche, nicht mal ein Skelett, nur Kleidungsstücke und Wäsche. Sorgfältig inspizierte er die Hosen und Blusen auf der Stange, tastete sich durch zusammengefaltete T-Shirts und Handtücher und wurde endlich auf dem obersten Regalboden hinter einem Stapel Pullover fündig. Er zog einen schweren Pappkarton hervor, balancierte ihn zum Bett und klappte erwartungsvoll den Deckel hoch.
Der Karton war vollgestopft mit Papieren. Versicherungsunterlagen, Formulare, ausgefüllt oder unbeschrieben, Kontoauszüge, Krankenhausrechnungen. Offenbar stimmte ihre Geschichte mit dem Motorradunfall. Er überflog die Seiten nur oberflächlich. Ein wenig widerwillig. Aber doch neugierig.
Unten am Boden des Kartons hatte er plötzlich einen Pass in der Hand. Er zögerte. Jetzt würde er erfahren, wie Charlotte Quinn in Wahrheit hieß.
Er stutzte, als er den gedruckten Namen las.
Thomas Keane.
Wie kam Charlotte an den Pass von Thomas Keane?
Ein völlig neuer Gedanke schoss Fin durch den Kopf. Hatte seine Meerjungfrau etwas mit seinem Verschwinden zu tun? Mit seinem Tod? Hatte sie zwischen den beiden Brüdern gestanden? Hatte am Ende Jack den eigenen Bruder aus Eifersucht getötet? Oder hatte Charlotte …
Fin schüttelte den Kopf. Das ging ihm jetzt etwas zu schnell. Keine voreiligen Schlüsse, das war unprofessionell. Er warf einen genaueren Blick auf einige Papiere. Seltsamerweise waren sie fast alle an Thomas Keane gerichtet. Die Adresse ein Postfach in Foley.
Er hielt ein Formular in der Hand, drei Seiten lang, mit einem Tacker zusammengeheftet. Der amtliche Stempel war geradezu riesig.
Namensänderung.
Er las aufmerksam, was da geschrieben stand. Seine Lippen bewegten sich lautlos, folgten den Worten.
Ungläubig.
Seine Hand zitterte. Das Papier zitterte. Die Buchstaben hüpften vor seinen Augen auf und ab.
Er las zum wiederholten Mal das, was da schwarz auf weiß stand, und er kapierte es noch immer nicht. Alzheimer, kam es ihm in den Sinn. So musste sich das anfühlen. Man starrte eine Aneinanderreihung von Buchstaben an, die bis gestern noch sinnvolle Worte ergeben hatten, deren Bedeutung einem aber heute entfallen war. Absurd, wieso er gerade in diesem Augenblick an Alzheimer denken konnte.
Er legte die Blätter zur Seite, ganz vorsichtig, als handele es sich um uralten, zerbrechlichen Papyrus. Hektisch begann er im Karton zu wühlen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die meisten der Anschreiben als Briefkopf Adressen in den Vereinigten Staaten hatten. Eine Klinik in Boston. Eine Arztpraxis in New Jersey.
Er griff nochmal nach dem Formular, ganz zaghaft, als könnten durch die geringste Erschütterung die Buchstaben durcheinandergeraten. Der Stempel war verschmiert und unleserlich. Lediglich der Ausstellungsort war zu entziffern. Boston, Massachusetts.
Deutlich hingegen und in Großbuchstaben wie eine Reklametafel am Picadilly Circus:
Namensänderung.
Fin stöhnte leise.
Charlotte Quinn hatte in der Tat etwas mit dem Tod von Thomas Keane zu tun und das auf eine Weise, die Fin sich nicht mal im wildesten Suff hätte vorstellen können.
19. Thomas
Er stand da, reglos, zu keiner körperlichen Reaktion fähig. In Stein gemeißelt, ein Denkmal der Blödheit.
Da war sie wieder, die Welle, die ihn fortreißen wollte, die sich drohend vor ihm aufbaute, höher und höher. Er hörte auf zu atmen, schloss die Augen und wartete, dass sie über ihn hereinbrach. Ihn fortriss. Und ihn erlöste.
Aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie zog sich zurück, und Fin glaubte zu hören, wie sie ihn aus weiter Ferne ganz leise auslachte.
Der Stein begann zu bröckeln. Er zitterte, hustete und schnappte nach Luft, als sein Körper sich plötzlich wieder an seine Aufgaben erinnerte. Er öffnete die Augen. Er stand noch immer in demselben unaufgeräumten Zimmer, es war noch immer Nacht und die Welt war nicht in einer riesigen Flutwelle untergegangen. Sie war noch da. Mit all ihren Gemeinheiten. Mit all ihrem Hohn und Spott.
Charlotte Quinn war Thomas Keane. Und er, Fin, war mit einem Kerl ins Bett gegangen.
Er spürte, wie ihm kalter Schweiß das T-Shirt auf den Rücken klebte. Starrte auf die Papiere, die zwischen seinen zitternden Fingern feucht wurden. Und ließ sie
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