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Die irische Meerjungfrau

Die irische Meerjungfrau

Titel: Die irische Meerjungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Roemer
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Vielleicht aber auch nur vom Leuchtturm.
    Eine winzige Chance hatte er noch. Aber nicht mehr viel Zeit.
    Warum tat sie so was?
    Hatte man sie benutzt? Am Ende sogar erpresst?
    Es musste etwas mit ihrer falschen Identität zu tun haben. Irgendeine Leiche im Keller ihrer Vergangenheit. Der Vergangenheit, die ihn, Fin, nichts anging.
    Vielleicht war es ja viel banaler. Warum klaute man einen Van Gogh? Weil man ihn meistbietend verscherbeln wollte. Aber alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung, dass seine Meerjungfrau aus freien Stücken gemeinsame Sache mit den Dieben, den Keanes oder wem auch immer, gemacht hatte. Warum konnte er das nicht glauben? Anders formuliert: Warum wollte er das nicht glauben? Warum lag ihm so viel an ihr? Warum wollte er ihr unbedingt helfen?
    Warum, warum … Ganz einfach. Er hatte sich verliebt.
    Schön, vielleicht war es nur ein Strohfeuer. Aber das wollte er selbst herausfinden. Und dazu brauchte er eine Chance. Er brauchte Zeit. Und er brauchte den Van Gogh. Wenn er das Gemälde hatte, konnte er weitersehen. Sich irgendwas einfallen lassen. Sie da raushalten, was immer es kostete.
    Je mehr Puzzlesteine er zusammenfügte, desto weniger gefiel ihm das Bild.

18. Vincent
    Wenn er für etwas im Leben Talent hatte, dann war es Warten. Warten und Nichtstun. Warten darauf, dass jemand anderes irgendetwas tat.
    Er hatte jahrelange Übung darin. Schließlich hatte man immer ihm die Scheißjobs zugeschanzt. Observieren. Sich Stunden, ganze Nächte um die Ohren schlagen. Auf der Lauer liegen und warten, dass sich jemand bewegte. Frierend in kalten Autos sitzen. Abgestandenen Kaffee aus Thermoskannen trinken. Warten auf die Ablösung, die immer zu spät kam.
    So wie jetzt. Und doch wieder anders.
    Dieses Mal würde ihn keiner ablösen. Keiner gab ihm Anweisungen oder redete ihm rein. Er hockte freiwillig hier. Es lag allein an ihm, was er daraus machte.
    Vielleicht hatte er ja genau darauf gewartet.
    Er hatte in seinem Leben immer alles geschluckt. War zu schwach gewesen für Widerreden, zu schwach sich zu wehren. Nicht nur gegen diesen Wichtigtuer Ramsay. Oder gegen Susan, die ihn einfach vor die Tür gesetzt hatte. Gegen den Alkohol. Nein, er konnte sich ja nicht mal gegen sich selber wehren. Vielleicht war er auch einfach nur zu müde. Sein Job ödete ihn an, langweilige Schreibtischarbeit mit Bergen von Papierkram. Das alles war ihm in den letzten Jahren gleichgültig geworden. Genau wie seine Ehe. Sein ganzes Leben, wenn er ehrlich war. Mit Ausnahme natürlich von Lily.
    Vielleicht hatte er genau auf diesen Augenblick gewartet. Auf jemanden wie Charlotte, die ihn wachrüttelte aus seiner Lethargie.
    Im Märchen erlöste der Prinz die Meerjungfrau. Im wirklichen Leben war es vielleicht die Meerjungfrau, die den Prinzen wachküsste.
    Er war von der Kirche direkt zum Cape Cloud hinausgefahren. Hatte den Wagen über einen steinigen Feldweg einen Hügel hinaufmanövriert und gut versteckt hinter Weißdornhecken abgestellt, so dass er die Leuchtturminsel überblicken konnte, ohne von der Straße aus gesehen zu werden. Seit gut zwei Stunden hockte er nun im Auto und wartete. Hinter einem Fenster im Leuchtturm brannte Licht. Charlotte war offenbar zu Hause; ob sie allerdings alleine war, konnte er nur vermuten. Den Geländewagen hatte er nirgends entdeckt.
    Die Novembernacht war winterlich kalt. Schwere Wolken gaben hier und da den Blick auf ein paar Sterne frei. Schneeflocken tänzelten vom Himmel, ließen sich lautlos auf seiner Windschutzscheibe nieder und schmolzen. Von Ferne rauschte ein schlafloses Meer. Das einzige Geräusch, das die nächtliche Stille störte, kam von der Folie an der Beifahrertür, die sich leise im Wind blähte.
    Es war kalt im Wagen. Kalt und unbequem. Er hatte sich tief in Jacke und Schal gekuschelt, den Geschmack der letzten Grippetablette noch auf der Zunge. Die Whiskyflasche, eine aus O’Connors Sonderangebot, lag auf dem Rücksitz, aber bis jetzt hatte er der Verlockung widerstanden. Einmal war er kurz draußen gewesen. Gräser und Sträucher waren mit Raureif überzuckert, hatten unter seinen Schritten geknistert. Seit er hier hockte, war kein einziges Auto vorbeigekommen. Er griff in die Plastiktüte auf dem Beifahrersitz und fischte einen Schokoriegel heraus. Eine wenig nahrhafte Alternative zum Abendessen, das er wieder mal hatte ausfallen lassen.
    Das Licht hinter dem Fenster ging aus.
    Fin ließ den Wischer über die nasse Scheibe streichen.
    Der

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