Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Dauerprovisorium der Pension. Nun siehst du mich, nun siehst du mich nicht mehr. Gabriel hätte das Musterbeispiel für endlose Bewegung bei minimalem Energieverbrauch abgeben können. Doch dann, plötzlich, an einem Februarmorgen, blieb er stehen und rührte sich für lange Zeit nicht mehr vom Fleck. Fast drei Monate Reglosigkeit, was für ihn eine Ewigkeit gewesen sein muss. Der exakte Moment des Anhaltens, physikalisch messbar, nach Newtons Gesetzen, ging mit einem ohrenbetäubenden Schrei einher, einem von denen, die die Schallmauer durchbrechen und eisig in dich hineinschießen. Das Unheil hatte zur Folge, dass dieser der letzte Umzug war, und wenn wir unserer Methode treu bleiben wollen, müssten wir es nun rekonstruieren, ohne dass uns dabei der Puls rast oder die Stimme versagt. Das wird nicht einfach werden.
Nummer 199. Barcelona–Hamburg. 14. Februar 1972.
Ein rechteckiger Karton, tief und schmal, auf den oben die Worte Muy frágil geschrieben sind. Danke für die Warnung. Da Petroli beschlossen hat, in Deutschland zu bleiben, deutet alles darauf hin, dass sich diesmal tatsächlich nur Bundó und Gabriel den Inhalt teilen werden. Beim Öffnen zeigt sich, es ist die typische Kiste mit den flachen, aber sperrigen Gegenständen, die nirgends sonst mehr reinpassten. Bundó behält einen Wandspiegel mit Goldrahmen für den Wohnungseingang, außerdem zwei Gemälde von herbstlichen Wäldern, signiert mit »S. B.«. Da es sich zufällig um seine Initialen handelt, wird er sicherlich behaupten, er hätte sie selbst gemalt. Der Spiegel ist in zwei Frotteehandtücher eingewickelt, bestickt mit denselben Buchstaben. Also hat der Hausherr die Bilder fabriziert. Sie sind schön, aber man merkt, dass er ein Amateur ist. Gabriel behält einen geografischen Weltatlas; ein Holztablett mit Gravuren tropischer Früchte; zwei Tennisschläger Marke Slazenger. Es findet sich noch ein Umschlag mit zwei verstaubten Röntgenbildern eines gebrochenen Handgelenks: Der Tennis spielende Künstler ist wohl bei einem Match böse gestürzt und musste lange Zeit mit dem Malen pausieren. Auch wenn sie niemand will, sagt Bundó, man dürfe Röntgenbilder nicht wegwerfen, das bringe Unglück.
Dieser Report stammt von der letzten Reise, zu der Gabriel, Bundó und Petroli gemeinsam aufbrachen. Vom letzten Ritt des Pegaso. Unser Vater hielt die Aufteilung der Beute fest wie immer, ohne zu wissen, dass es kein weiteres Mal geben würde. Vielleicht war er beim Schreiben ein wenig schüchtern, denn sie waren ja fast beim zweihundertsten Umzug angelangt, und bekanntlich flößen runde Zahlen Respekt ein. Doch es wäre absurd, hier irgendein Vorzeichen dessen zu suchen, was zehn Stunden später, als die Tinte noch frisch war, auf der Autobahn passieren sollte. Andererseits sind wir Christofs, nachdem wir die Sache aus allen Blickwinkeln betrachtet haben, durchaus versucht zu glauben, dass die drei Freunde schon seit Längerem, unbewusst und ohne es zu wollen, auf einen Punkt ohne Wiederkehr zusteuerten. Es ist diese Ungewissheit des Kommenden, die uns auslaugt und die wir, um es uns leichter zu machen, Schicksal nennen. Das tun wir doch alle, oder? Wenn ein Unglück über uns hereinbricht, suchen wir nach Hinweisen in der unmittelbaren Vergangenheit, um es zu verstehen oder sogar zu rechtfertigen. Als könnten wir auf diese Weise den Irrtum abschaffen und die natürliche Ordnung von Ursache und Wirkung wiederherstellen.
Manchmal bei unsern Versammlungen im Carrer Nàpols versuchen wir, all die Hinweise in Gewissheiten zu verwandeln, und verzetteln uns in Hypothesen. Zum Beispiel in der folgenden: Wäre es 1972 mit den La-Ibérica-Reisen weitergegangen, so hätte Gabriel unserer Reihe höchstwahrscheinlich einen weiteren Christof hinzugefügt. Ein Brüderchen. Das ist eine Frage der biografischen Kohärenz. Christof wurde im Oktober 1965 geboren, im Juli 1967 kam Christopher zur Welt, und im Februar 1969 Christophe. Die Abfolge besagt, dass sich unser Vater etwa alle zwanzig Monate von einer jungen Frau verführen ließ und dass aus dieser flüchtigen Begegnung jeweils ziemlich genau neun Monate später ein Kind hervorging. Wir zweifeln nicht daran, dass früher oder später wieder eine Europäerin – Italienerin, Holländerin, Schweizerin? – seinem Zauber erlegen wäre.
Als wir Petroli bei unserm Besuch diese Theorie vorlegten, dachte er kurz nach, rümpfte dann die Nase und sagte, Gabriel habe ja nie vorgehabt, Kinder zu zeugen. Es
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