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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Kind von uns allen sein. Wir alle, auch du, sind seine Eltern. Es ist ein Kind der Revolution.«
    Sie streckte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Mund, die anderen applaudierten. Gabriel blieb stumm und lauschte dem Radio. Gerade hatte der Sprecher das nächste Lied angekündigt. Er hob einen Finger, damit die anderen auch zuhörten. Alle sahen ihn an.
Puis il a plu sur cette plage
Et dans cet orage elle a disparu …
Et j’ai crié, crié, Aline, pour qu’elle revienne
Et j’ai pleuré, pleuré, oh!, j’avais trop de peine …
    »Dieses Lied«, sagte er, »ist sehr schön. Können wir es so machen, Mireille: Wenn es ein Mädchen ist, heißt es wie das Mädchen in dem Lied?«
    Sie musste lachen. »Und wenn es ein Junge ist?«
    »Wenn es ein Junge ist, soll es heißen wie der Sänger.«
    Nun lachten sie alle, aber als ich dann geboren war, erinnerte Gabriel sie an dieses Gespräch, und Mireille tat ihm natürlich den Gefallen.
    Das Lied, damals ein Hit, hieß Aline, und gesungen wurde es von einem gewissen Christophe.
    Ja, Gabriel, der perfekte Situationist.

11
D ER LETZTE U MZUG
    »Und dann«, sagt Christophe geheimnisvoll, »erwachte Gabriel in seinem Bett in der Pension, das Laken war schweißgetränkt, und er begriff, dass dieses ganze Pariser Abenteuer nichts weiter als ein Traum gewesen war.«
    »– …«
    »– …«
    »– …«
    »Nein! Nicht doch! Das war ein Witz. Schaut mich nicht so an, Christofs. Alles, was ich euch erzählt habe, stimmt. Wirklich.«
    Wir sind in der Wohnung im Carrer Nàpols, bei einer unserer spiritistischen Sitzungen, wie Rita sie nennt, und wir werden gerade verrückt. Buchstäblich. Phasenweise scheinen wir besessen von Gabriels flüchtigem Geist, als würden diese Wände, die ihn schützten, uns den Verstand aussaugen. Jedes Treffen unseres Christof-Klubs dient dazu, uns noch ein Stück weiter in die Obsession hineinzureiten. Wir ziehen die Schlinge immer enger, wie die Detektive im Film sagen, aber nie fangen wir unsern Vater ein. Wie wir hier seine Wege nachzeichnen, Schritt für Schritt – es kann uns doch nicht befriedigen. Selbst wenn wir in unsere Erzählung möglichst alle Personen einbeziehen, die viel mit ihm zu tun hatten, gelingt es uns nicht, ihn lebendiger zu machen, ihm näherzukommen. Im Gegenteil, es ist, als hätte er Spaß daran, in der Menge unterzutauchen und sich nicht erwischen zu lassen.
    »Get back, get back, get back … to where you once belonged!«
    Diese Beatles-Worte singt nicht, wie zu erwarten wäre, Chris, sondern Christof, im Duett mit Cristoffini, und keiner von beiden trifft den Ton. Sie gehen auf Zehenspitzen durch die Wohnung (gut, Christof geht, der andere hängt ihm am Hals) und reißen abrupt die Türen auf, als müsste sich hinter einer von ihnen unser Vater verstecken.
    »Geh zurück, los, geh zurück, geh verdammt noch mal endlich zurück an den Ort, wo du mal hingehörtest.« Seht ihr? Selbst bei der Wahl der Songs sind wir ungenau. Wenn wir in all den Monaten, die wir nun seinen Lebensweg zusammenpuzzeln, irgendeine Gewissheit erlangt haben, dann doch die, dass Gabriel niemals irgendwo hingehört hat. Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, einen Ort zu finden, an dem sie Wurzeln schlagen können. Sei es in einem einsamen Knick der Landkarte oder mitten im cholerischen Großstadtgewimmel. Sei es da, wo sie alle anderen Menschen um sich herum haben, sei es da, wo sie sich alle anderen schön vom Leib halten können: Sie brauchen einen bestimmten Ort in der Welt, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Es gibt aber auch welche, die unfähig sind, irgendwo stillzuhalten, und denen die Bewegung selbst zur Heimat wird, die ständige, alltägliche Flucht ohne festes Ziel.
    »So wie die Haie, die immer schwimmen müssen«, veranschaulicht Christophe. »Sie schwimmen sogar im Schlaf, denn wenn sie anhielten, würde ihr Körper das nicht ertragen, und sie würden sterben.«
    So ist es. Seit er als Siebzehnjähriger aus dem Heim kam und mit Bundó in die Pension zog, hatte Gabriel immer zwei Koffer unterm Bett. Den einen, aus Pappe, hatten ihm die Nonnen zum Abschied geschenkt. Und auf beide verteilten sich die wenigen Schätze seiner Kindheit, ein paar Schulhefte und Bücher, Fotos von uns, Beutestücke von den Umzügen. Sein Anspruch war, dass sein ganzes Leben in zwei Koffern Platz finden müsse. Nur leichtes Gepäck. Das passte zu den Reisen von La Ibérica, die ihm das Gefühl gaben, ein Nomade zu sein, und zum

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