Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
weitete Rita ihr Interesse aus und ließ sich von den Kollegen am Flughafen die Sternzeichen nennen. Wenn sie sah, dass Porras und Sayago wegen einer Nichtigkeit in Streit gerieten oder dass Leiva beim Fegen in dumpfes Brüten verfiel, fand sie im Horoskop jedes Mal die passende Erklärung.
Doch wie es so geht mit den Obsessionen, kam irgendwann der Moment, in dem ihr die wöchentliche Vorhersage aus der Garbo nicht mehr ausreichte. Seit sie, Argos’ Ankündigung gemäß (»Neuigkeiten im beruflichen Bereich«), die Stelle am Flughafen erhalten hatte, war ihr Leben unübersichtlicher geworden. Sie hatte mit viel mehr Menschen Umgang als früher, sprach jeden Tag mit Unbekannten, und entsprechend mehr Möglichkeiten hatte das Schicksal, sein Spiel mit ihr zu spielen. Dagegen musste man sich wappnen, und dafür waren die Prognosen aus der Zeitschrift doch zu dürr.
An einem Wintersamstag stieß sie auf die nötige Unterstützung. Kurze Zeit vorher hatte sie, wohl irgendwo auf der Straße, die Wohnungsschlüssel verloren und aus Furcht vor Einbrechern das Schloss austauschen lassen. Nun wollte sie von den neuen Schlüsseln noch ein Duplikat haben und erinnerte sich an einen Handwerker in der Avinguda de la Llum, zu dem ihre Mutter manchmal gegangen war. Falls ihr es nicht wisst, Christofs, diese »Allee des Lichts« war eine Passage, die es damals unter dem Carrer Pelai gab, an der Plaça de Catalunya. Dort drängten sich im Neonlicht ein Durchgang zum Regionalbahnhof, eine Bar, ein Kino und ein paar Geschäfte. Rita nahm also die Treppe, die vom Carrer Bergara aus hinabführte, und tauchte ein in die Avinguda de la Llum. Obwohl es Samstagnachmittag war, herrschte hier unten nur wenig Betrieb. Die Luft war stickig und süßlich, ein Gemisch aus Ruß und frisch gebackenen Keksen. Die nikotingelben Säulen zu beiden Seiten ließen den langen, engen Gang wie eine Krypta aussehen. Oder wie die Luftröhre eines Dinosauriers. Rita wich ein paar Leuten aus, die blinzelnd aus dem Kino traten, und suchte nach dem Stand des Schlüsselmachers.
Nachdem sie die Kopien hatte anfertigen lassen, verweilte sie noch ein wenig vor dem Schaufenster eines Miederwarengeschäfts. Als sie gerade am anderen Ende des Tunnels wieder aufsteigen wollte, fiel ihr Blick auf einen Mann, der vor der letzten Säule an einem Klapptischchen saß. Ein Hüne mit langer Hippiemähne, er trug eine violette und silbern gemusterte Tunika und um den Hals ein Amulett in Form eines fünfzackigen Sterns. Auf dem Tisch verhieß ein Schild: »Jorgito der Magier. Sagt Ihnen die Zukunft voraus … sofort!« Rita musste nicht zweimal überlegen, ehe sie ihn nach dem Preis einer Horoskopberatung fragte. Nachdem er sie eingehend gemustert hatte, zog er einen Klappstuhl unter dem Tisch hervor, entfaltete ihn und bat sie, es sich bequem zu machen. Der Preis würde kein Problem sein. Und er begann zu erläutern, dass ein gutes Horoskop anhand der Sternkarte erstellt werden müsse, alles andere sei bloß Gewäsch. Ob für sie schon einmal eine Sternkarte gemacht worden sei? Nein? Als Erstes müsse er dafür die genaue Stunde ihrer Geburt wissen. Sie konnte sie ihm nennen. Der Magier Jorgito zog ein Buch aus einer Tasche, schlug eine Seite mit einer vertrackten astrologischen Karte auf und murmelte, während er auf einem Zettel Berechnungen anstellte, allerhand Wörter vor sich hin, die für Rita sehr professionell klangen: Planetenposition … Aszendent überm Horizont … Mondzeichen und Sonnenzeichen … Nach diesem ersten Besuch stieg sie noch zwei weitere Male hinab in die Allee des Lichts. Der Magier Jorgito musste ihr astrologisches Profil ausmessen. Wie viel Geld sie ihm insgesamt gegeben hat, wissen wir nicht, sicher mehr als nötig, aber es schien ihr gut angelegt. Der Seher unterteilte seine Vorhersagen in die Bereiche Gesundheit, Geld und Liebe. Gesundheit und Geld interessierten Rita nicht sonderlich. Hingegen brannte sie darauf, mehr über dieses vieldeutige und unbekannte Ding namens Liebe zu erfahren. Nach dem dritten Besuch sah sie in dieser Hinsicht ein wenig klarer. Anhand der wechselseitigen Anziehungskraft gewisser Sternzeichen und der planetaren Einflüsse auf ihren Aszendenten konnte der Magier Jorgito das Profil des perfekten Mannes für sie ermitteln. Reisefreudig und abenteuerlustig (der Seher wusste inzwischen, dass Rita am Flughafen arbeitete), ohne familiäre Bindungen (er wusste auch, dass sie Waise war), geboren entweder in Barcelona oder in
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