Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sie die geweinte Frage heraus, wo er denn sei, sie wolle ihn sehen, sie könne es keinen Augenblick länger ertragen, ihn nicht zu sehen. Am Ende hatte Gabriel sie überreden können, direkt nach Barcelona zu kommen. Am Mittwochmorgen würden sie Bundó in die Via Favència bringen und in seiner eigenen Wohnung die Totenwache abhalten, wie es sich gehörte.
Verdammt, Christofs, was für eine Scheiße. Verzeiht mir die kleine Träne. Es musste ja erzählt werden, und jetzt haben wir es hinter uns.
Zusammen mit ein paar Flughafenarbeitern trug der Bursche vom Bestattungsinstitut den Sarg aus der Maschine und lud ihn in den Wagen. Mit Genehmigung des Notars gab Gabriel dem Fahrer die Adresse in der Via Favència. Carolina war gewiss schon in der Wohnung. Als Leichenwagen und Notar abgefahren waren, begleiteten die beiden Polizisten unseren Vater zur Gepäckausgabe. In Frankfurt hatte er die Tasche mit Bundós Hinterlassenschaften und den anderen Fundstücken aus dem Pegaso aufgeben müssen. Aber nun lag sie nicht auf dem Gepäckband. Alle Passagiere des Fluges waren schon mit ihren Sachen fort, die Formalitäten und das Umladen des Sarges hatten sich fast eine Stunde hingezogen. Also gingen die Polizisten mit ihm zum Schalter für Gepäckreklamationen, dort würde sich die Tasche gewiss finden.
Willenlos lief Gabriel ihnen hinterher. Er war an diesem Morgen so kaputt, dass er ihnen sogar in die Hölle gefolgt wäre. Wie gewohnt beglückten die Polizisten die junge Frau am Schalter zunächst mit einem derben Scherz, bevor sie ihr erklärten, dieser Herr sei mit dem Flug aus Frankfurt eingetroffen, sich zum Abschied an die Dreispitzhüte tippten und in ihr Wachhäuschen zurückkehrten. Rita empfing den Kunden mit ihrem Dienstlächeln, doch sie merkte gleich, dass es nicht wirkte. Dieser Mann war zerstört, irgendein Problem fraß ihn auf. Er bewegte sich so langsam, als könnte er im nächsten Moment für immer erstarren, und sein Gipsarm verstärkte noch den Eindruck der Zerbrechlichkeit. Sie fragte ihn, wie die Tasche aussehe, und es gelang ihm, zu antworten, sie sei schwarz, aus schwarzem Stoff. Das vermerkte sie auf dem Formular und bat ihn um seinen Pass oder Ausweis. Der unbewegliche Arm machte es Gabriel schwer, die Mappe mit den Dokumenten zu öffnen, und ein paar Papiere fielen heraus, auf den Schaltertisch. Rita erblickte einen Pass und griff ihn sich.
Es war der von Bundó.
Wie immer sah sie als Erstes nach dem Geburtsdatum. 29. November 1941. Die Welt stand still, um ein Haar hätte Rita aufgeschrien. Sie blickte auf, noch einmal in das Gesicht dieses Hilflosen, dann wieder zurück auf das Datum. Tag 29. Monat November. Jahr 1941. Sie fühlte sich wie jemand, der gerade die sechs Richtigen auf seinem Lottoschein wiederfindet. Mühsam unterdrückte sie ihre Aufregung, blätterte in dem Pass und sah all die Zollstempel. Also obendrein ein Vielreisender! Da wusste sie, sie würde alles tun, um diesen Fremden näher kennenzulernen.
Gabriel bekam nichts mit. Rita hielt den Pass mit aller Kraft fest, und ohne auf das Foto zu achten – wozu auch, sie hatte ihn ja persönlich vor sich –, notierte sie den Namen ihres perfekten Mannes: Serafí Bundó Ventosa. Wie melodisch das klang! Die Buchstaben gerieten ihr zittrig, und beim Schreiben fiel ihr auf, dass sie ja noch mehr von ihm wissen musste. Mit ihm sprechen, seine Stimme hören und so weiter. Die Adresse natürlich! Und was, wenn er nicht aus Barcelona war? Sie fragte ihn nach seiner Anschrift, und Gabriel geriet ins Stammeln. Er war so weit weg von allem, dass es ihm schwerfiel, sich zu erinnern, wo er lebte, wenn er überhaupt lebte. Schließlich brachte er die Adresse der Pension heraus: ›Ronda de Sant Antoni 70.‹ – ›In Barcelona?‹ – ›Ja. ‹Während sie das notierte, wurde Rita klar, dass er ganz bei ihr in der Nähe wohnte. Ein Nachbar. Keine zweihundert Schritte, sagte sie sich und versuchte zu erraten, welches Gebäude es war. Um ihre Verwirrung zu überspielen, bemühte sie sich um einen freundlich-professionellen Tonfall: »Ah, dann wohnen wir im selben Viertel … Ich könnte Ihnen die Tasche morgen vorbeibringen, wenn sie auftaucht.«
Obwohl er gedacht hatte, man würde sie ihm sofort geben, nickte er stumm, und sie bewunderte seine Schüchternheit. Sie brannte darauf, ihm weitere Fragen zu stellen, aber in ihrer Nervosität fiel ihr nichts Passendes ein. Zum ersten Mal hatte sie Angst davor, einem Passagier zu nah zu treten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher