Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Cristòfol wollte in der Kammer ein paar Papiere zusammensuchen. Oder dasselbe in anderer Zuordnung, jedenfalls herrschte dann plötzlich Stille. Und im nächsten Moment fanden wir uns alle im Esszimmer wieder. Wir gingen auf Zehenspitzen, und jeder von uns vieren machte ein Gesicht, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. Beweise gab es nicht – etwa einen schmutzigen Teller im Spülbecken oder einen Aschenbecher mit zwei Zigarettenkippen in der Kammer –, aber wir wussten, jemand war hier gewesen. Wir mussten irgendetwas aus dem Augenwinkel bemerkt oder irgendein komisches Geräusch gehört haben. Wie zur Bestätigung legte Christophe den Finger an die Lippen – seid ganz still! – und deutete auf die Schlafzimmertür. Sie war verschlossen. Immer wenn wir aus der Wohnung gingen, ließen wir eins der Fenster zum Lichthof auf Kippe stehen, damit ein bisschen Luft in die Zimmer kam. Durchzug konnte es aber nicht geben, und von alleine gehen Türen nicht zu. Wir sahen uns an und dachten alle vier dasselbe: War der Moment endlich gekommen, würden wir jetzt und hier unsern Vater wiederfinden? Auch wenn wir es uns nicht eingestanden, gefiel uns die Vorstellung nicht. Wir hatten so viel Zeit damit verbracht, seinen Lebensweg zusammenzupuzzeln, dass wir uns doch eine etwas ausgefallenere Auflösung erhofften.
Chris, der die stärksten Nerven hat, öffnete behutsam die Tür. Wir drei anderen reckten hinter ihm die Köpfe. Nach und nach zeigte uns die Helligkeit, die durch die zugezogenen Gardinen drang, dass sich in dem Schlafzimmer niemand befand.
Die anschließende Durchsuchung der Wohnung brachte uns zu dem Schluss, dass der Eindringling Gabriel gewesen war. Wer auch sonst? Die Tür hatten wir unversehrt gefunden, also keinesfalls aufgebrochen, und einzelgängerisch, wie er war, nahmen wir nicht an, dass außer ihm jemand einen Schlüssel hatte. Wahrscheinlich hatte er eine Nacht hier verbracht oder auch nur ein paar Stunden, denn die Überdecke auf dem Bett war ein wenig zerknittert, aber nicht zerwühlt; vielleicht hatte er in seiner Kleidung geschlafen. Die Schranktür war geschlossen und der Schrank leer – er hatte alles mitgenommen, auch die alte Jacke und die Hemden mit den Karten im Ärmel. Die Frage brannte uns auf der Zunge: War es jetzt geschehen, hatte er sich jetzt entschieden, für immer von hier zu verschwinden? Aber wir konnten nicht glauben, dass er seine anderen Habseligkeiten zurücklassen würde. Diese Gegenstände, die er wie einen Schatz hütete (oder wie einen Fluch), hatten unsern Vater durch sein ganzes Leben begleitet und gaben ihm, paradoxerweise, gerade so viel Gefühl von Verwurzelung, wie er brauchte. Einmal mehr durchwühlten wir die Kisten und Mappen in der Kammer in der Hoffnung auf irgendwelche Hinweise. Sie waren alle am selben Ort wie zuvor, er hatte sie nicht einmal angerührt. Das Einzige, was wir vermissten, waren die neuen Sätze Pokerkarten in Zellophanhülle. Bei der ersten Inventur hatten wir ein Dutzend davon gezählt, nun fanden wir keinen mehr.
Weitere Spuren. Wir Christofs hatten in dieser Rumpelkammer ein freies Regalbrett in Besitz genommen, wo wir alles aufbewahren, was bei unseren Nachforschungen anfällt. Da liegen ein Block mit Notizen über die Reisen von La Ibérica, Papier und Briefe von Carolina, ein Tonbandgerät und unsere Aufnahmen mit Petroli, die Dinge, die wir hinterhältig aus seinem Haus stahlen … Auf den ersten Blick sah es aus, als hätte Gabriel auch hier nichts angerührt. Das Zeug schien sogar – aber das konnte nicht sein – ordentlicher aufgereiht als zuvor und staubfrei, als hätte er selbst sich darum gekümmert.
Weitere Spuren, weitere Spuren. Als wir letztes Mal im Carrer Nàpols waren, hinterließen wir auf dem Tisch im Esszimmer einen Umschlag mit Fotos von uns. Wir hatten sie im Sommer in London gemacht, bei einem Ferientreffen der Christofs. Es gab welche aus den London Fields, welche von dem Haus in der Martello Street, wo Chris und Sarah gewohnt hatten und das unser Vater ja von ein paar Besuchen kannte, und welche von uns vieren, wie wir im Pub mit unsern Biergläsern prosten. Wir hatten noch mehr Abzüge davon gemacht und wollten sie Carolina und Petroli schicken, als kleinen Dank für ihre Hilfe. Aus Spuren im Staub auf der Tischplatte und der Position eines Stuhls schlossen wir, dass unser Vater sich hingesetzt hatte, um die Bilder zu betrachten. Wir gingen sie durch und glaubten, ohne ganz sicher zu sein, er habe sich
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