Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
musste Zeit gewinnen und bat ihn fürs Erste, das Formular zu unterschreiben. Gabriel krakelte etwas Unleserliches hin, nahm unter ihrem fassungslosen Blick den Pass an sich, wandte sich um, ließ noch ein kaum hörbares Adéu fallen und schlurfte von dannen. Rita reagierte nicht gleich, und als sie es dann tat, indem sie ihn beim Nachnamen rief, hörte er sie nicht mehr.
Doch anstatt zu verzweifeln, las sie noch einmal seinen Namen und seine Adresse und ließ ihn gehen. Es machte ihr nichts aus. Sie hatte ja sein Pfand. Es stand in den Sternen, dass am nächsten Tag die schwarze Tasche wieder erscheinen und sie zusammenführen würde.
Gabriel folgte den Pfeilen Richtung Ausgang. Am anderen Ende der Halle, auf dem letzten Gepäckband, erblickte er eine einsam kreisende Tasche. Er trat heran. Auch wenn sie ähnlich aussah, war es nicht seine, doch sein Kurzzeitgedächtnis ließ ihn im Stich. Er glaubte sie gerade deshalb wiederzuerkennen, weil es keine andere gab. Ohne weiter nachzudenken, griff er sie sich und ging hinaus, um wieder zu Herrn Casellas zu stoßen. Die zwei Polizisten grüßten ihn wachsam von ihrem Posten aus.
3
M YSTERIEN UND O HNMACHTSANFÄLLE
Papà. Daddy. Père. Papi. Nannten wir ihn so? Hatten wir uns das je angewöhnt? Ist es so lange her, dass wir es schon vergessen haben? Immer mehr Arbeit für uns staut sich an. Hier bleiben uns nur die Aussagen unserer Mütter. Gabriel habe gewollt, dass wir ihn so nannten, es habe ihn stolz gemacht. Aber sie sagen auch, dass wir das Wort fast nur in seiner Abwesenheit verwendet hätten. Wo ist Papa? Morgen kommt Papa. Papa ist am Telefon und will dir Hallo sagen. Nein, Papa ist gerade nicht da. Was meinst du mit ›Wann kommt Papa wieder?‹. Wir könnten eine Liste der Entschuldigungen und Ausflüchte erstellen, die sie erfanden, als er plötzlich aufgehört hatte, uns zu besuchen. Aber das fänden wir zu schwermütig.
Ja, die Arbeit staut sich an. Wahrscheinlich ist diese Besessenheit, mit der wir darauf aus sind, die Vergangenheit dingfest zu machen, im Grunde eine Instinktreaktion, ein Versuch, uns gegen die Unwägbarkeiten der Zukunft zu wappnen. Und nun, da wir uns gerade daran gewöhnt haben, im Februar 1972 zu leben – »Asche auf mein Haupt«, knirscht Cristòfol –, begehrt die Gegenwart auf und drängelt sich in den Vordergrund.
Wir hatten ein weiteres Treffen in Barcelona ausgemacht. Am Freitag um zwei Uhr versammelten wir uns zum Mittagessen im Can Soteres, einem Restaurant in der Diagonal, wo Herr Casellas vor dreißig Jahren immer hinging, wenn er bei einem Kunden Eindruck schinden wollte. Nach dem Essen spazierten wir zusammen den Passeig de Sant Joan hinunter bis zum Triumphbogen, dann weiter Richtung Carrer Nàpols. Wir waren lange nicht mehr in der Wohnung gewesen. Unser Programm fürs Wochenende bestand darin, Gabriels Spuren im Stadtviertel zu suchen. Im Restaurant hatte Christof uns eine beeindruckende Neuigkeit aufgetischt: Er und Cristoffini hatten in einem Vorort von Kassel einen Lastwagenfriedhof ausfindig gemacht. Anhand des spanischen Nummernschilds hatten sie dort in einer abgelegenen Ecke tatsächlich die Überreste des armen Pegaso entdeckt. Seit dreißig Jahren liegen sie da, und das zerknautschte Fahrerhaus hält immer noch stand. Außen voller Rostlöcher, innen voller Moos und Laub. Räder, Windschutzscheibe, Lichter und Lenkrad fehlen. Die Sitze sind im Regen verfault. Natürlich machten Christof und Cristoffini Fotos. Sie durchsuchten auch die Kabine, fanden aber fast nichts. Unter Verrenkungen nahmen sie auf dem Fahrersitz Platz und legten ihre Hände auf das, was vom Schaltknüppel übrig geblieben war. Der Betreiber des Schrottplatzes sagte ihnen, sie könnten die Ruine gerne mitnehmen, er würde sie ihnen schenken. Cristoffini war von dem Vorschlag sehr angetan, aber am Ende setzte Christofs Vernunft sich durch, und sie nahmen nur das Nummernschild mit sowie einen Pirelli-Kalender aus dem Jahr 1972, wundersamerweise unbeschädigt, und einen zersprungenen kleinen Taschenspiegel, der seine sieben Jahre Pech längst aufgebraucht hatte. Wie oft mochte er Bundós Gesicht eingefangen haben, wenn er sich für einen Besuch im Papillon herrichtete?
Mit solch komplizierten Fragen beschäftigt, kamen wir bei der Wohnung an. Cristòfol schloss auf, und wir breiteten uns drinnen aus, als wäre es unser Zuhause. Christof ging zur Toilette, Chris zog die Jalousie im Esszimmer hoch, Christophe trat in die Küche, und
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