Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Lust mehr auf das Thema hatte, griff er sich einen neuen Zahnstocher und blätterte wieder in seiner Zeitschrift. Cristòfol bestellte aus Höflichkeit einen Kaffee. Beim Servieren zwinkerte der Kellner, ein unrasierter Bursche um die dreißig, ihm zu, und als Cristòfol die Tasse hob, fand er darunter eine zusammengefaltete kleine Papierserviette. Er hob den Blick wieder zu dem Kellner, der zur Tarnung in die andere Richtung sah, aber mit dem Kopf nickte. Der Wirt war in seine Lektüre vertieft. Cristòfol barg das Papier in seiner Handfläche und las, was darauf stand. Eine Telefonnummer und die Worte »Ruf spätabends an!«. Er zahlte und ging ohne Abschiedsgruß.
Als wir uns vor der Wohnung wieder trafen, war er ganz nervös, das Papierchen brannte ihm in der Tasche. Wir warfen die Ergebnisse unserer Nachforschungen zusammen und stellten einmal mehr fest, was wir längst wussten: Unser Vater hatte das Talent, nicht aufzufallen, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Und zu besonderer Meisterschaft in dieser Kunst hatte er es im eigenen Wohnhaus gebracht.
Wir nutzten den Nachmittag, um die anderen Mieter zu befragen. In drei der neun Wohnungen wurde uns nicht einmal geöffnet. Drei weitere Nachbarn stritten ab, ihn zu kennen oder ihn je im Treppenhaus gesehen zu haben (da seine Wohnung im ersten Stock lag, hatte Gabriel vermutlich nie den Fahrstuhl benutzt). Zwei geschwätzige alte Damen aus dem zweiten Stock öffneten ihre Türen beide im selben Moment, als hätten sie sich abgesprochen. Sie betrachteten das Phantombild und versicherten uns, dieser Mann sei »das Gespenst«, das sich vor längerer Zeit im ersten Stock versteckt habe. Dieses Wesen, erklärten sie uns, sei vor etwa einem Jahr gestorben. Sie selbst hätten die Polizei verständigt, weil bestialischer Gestank aus der Wohnung gedrungen sei. Bei dem Ganzen müsse es sich aber um eine sehr undurchsichtige Angelegenheit handeln, etwas, wo der Staat seine Hände im Spiel habe, denn die Regierung habe so getan, als sei nichts passiert.
»Sicher war er ein russischer Spion. Oder ein amerikanischer. Noch aus der Franco-Zeit.«
»Oder ein Außerirdischer. Sie haben ihn geräuschlos weggeschafft, um ihn zu analysieren.«
»Manchmal hörten wir ihn in fremdartigen Sprachen reden.«
»Da kommunizierte er mit seinen Vorgesetzten. Das soll vertuscht werden, aber es ist die reine Wahrheit.«
»Wir lassen uns jedenfalls nicht einschüchtern und bleiben wachsam. Seit ein paar Monaten hört man wieder Stimmen in der Wohnung.«
»Und zwar immer an den Wochenenden. Da ist was im Busch.«
Wir sagten ihnen, da lägen sie gewiss nicht falsch, und baten sie um ihre Mitarbeit. Wir wollten sie ja nicht enttäuschen. Würden sie auch unter der Woche irgendwelche Geräusche oder Gespräche aus der Wohnung hören, so sollten sie es uns beim nächsten Mal berichten. Allerdings hatten wir Angst, dass sie vor lauter Aufregung der Schlag treffen könnte.
Die Nachbarin, die im ersten Stock Wand an Wand mit Gabriel lebte, war eine Italienerin namens Giuditta – das wussten wir schon vom Schild auf ihrem Briefkasten –, und sie schien uns die interessanteste Gestalt aus dem Haus zu sein. An dem Tag, als Cristòfol zum ersten Mal herkam, war sie auf den Treppenabsatz getreten, hatte ihn zu sich gerufen und kurz mit ihm geredet. Sie wusste von Gabriels Verschwinden, und es machte ihr Sorgen. Die Polizei hatte sie zweimal befragt, ehe sie unseren Vater als vermisst einstuften. Leider hatte sie nicht weiterhelfen können. Gabriel neigte allgemein wenig dazu, den Kontakt mit den Nachbarn zu pflegen, nicht wahr? Sie hatte sich dann erboten, die Post für ihn entgegenzunehmen, falls welche käme.
Nun, da wir zu viert bei ihr klingelten, öffnete sie nur so weit, wie es das Türkettchen zuließ, und blickte uns durch den Spalt an. Cristòfol kam sie kühler vor als beim ersten Mal. Wir sagten, wir müssten mit ihr sprechen. Hatte sie in den letzten Tagen irgendwelche Geräusche gehört? Wir hätten einen Verdacht … Sie bat uns, einen Moment zu warten, und schloss die Tür wieder. Zwei, drei Minuten lang hörten wir sie in ihrer Wohnung umherlaufen und Dinge wegräumen; ein Radio verstummte, eine weitere Tür knallte, dann öffnete sie uns von Neuem, nun etwas zutraulicher. Sie hatte Zeit gefunden, ein Kleid überzuziehen und ein wenig Make-up aufzutragen, doch weder das Rouge noch der Lippenstift konnten verbergen, wie erschrocken sie war.
Mit einer angespannten Geste bat sie uns
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