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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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ins Wohnzimmer. Sie bot uns nichts zu trinken an, wohl weil sie erwartete, dass wir gleich wieder gehen würden. Ihr Wohnzimmer war eine farbenfrohe und barocke Version von Gabriels Esszimmer. Gardinen und Sofalandschaft mit Blumenmuster verliehen ihm ein britisches Flair, leicht verschlissen wie im Hotel Fawlty Towers. Ein Teppich in erdigen Tönen, der den Boden komplett bedeckte, ließ an ein Bingo-Zimmer denken. Nicht ein Zentimeter Wand lag frei: Es gab zwei große Regale voller Bücher, zumeist mit Rücken in schreienden Farben, und der Rest der Fläche war mit Landschaftsbildern und Fotos zugepflastert. Da wir alles eingehend betrachteten, erklärte Giuditta uns, sie habe eine Vorliebe für zwei sehr unterschiedliche Arten von Büchern, nämlich Liebesromane und Atlanten. Christophe deutete auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das einen großen Teil der Wand beherrschte. Ein Mädchen, kopfunter an einem Trapez hängend, ihr Gesicht im Scheinwerferlicht, im Hintergrund ahnte man die Bahnen und Streben eines Zirkuszelts. Sie hielt sich locker im Gleichgewicht, dabei umklammerten allein ihre Zehen die Trapezstange. Mit der Kraft ihrer Füße hielt sie ihren ganzen Körper, dennoch strahlte ihr Gesicht eine engelsgleiche Ruhe aus.
    »Entschuldigung – sind das Sie?«
    »Ja, dieses Foto«, ächzte sie. »Da war ich nicht mal sechzehn Jahre alt, stell dir vor. Manchmal schaue ich es mir an und erkenne mich nicht wieder.«
    Giuditta war nun über fünfzig. Noch immer hatte sie die sehnige Figur der Akrobatin, doch in ihr Gesicht hatte sich dieser zwiespältige Ausdruck gegraben, auf halbem Weg zwischen Seligkeit und Neurasthenie, wie er sich oft bei Menschen findet, die viele Jahre im Zirkus gearbeitet haben und sich jeden Tag schminken mussten. Ohne dass wir weiter nachgefragt hätten, erzählte sie uns, sie sei in einer Schaustellerfamilie aufgewachsen – die Cherubini Brothers, wie ein gerahmtes Plakat verriet – und von klein auf für das Trapez bestimmt worden. Bis vor zehn Jahren hatte sie die Tradition fortgeführt, aber dann, während eines Gastspiels in Barcelona, sei ihr klar geworden, dass sie dieses Nomadenleben satthatte. Kurz darauf habe eine Grundschule hier sie als Sportlehrerin angestellt, und da arbeite sie noch heute.
    Ihr unbefangener, fast familiärer Ton wurde wieder kühler, als wir vom Anlass unseres Besuchs sprachen. Alles deute darauf hin, dass Gabriel Delacruz selbst kürzlich in seiner Wohnung gewesen sei und einige Sachen mitgenommen habe. Ob sie etwas gehört habe? Die anderen Nachbarn …
    Es schien ihr nun schwerzufallen, mit uns zu reden, vielleicht zwang sie sich auch zur Zurückhaltung, jedenfalls gerieten ihre Antworten kurz und unwirsch. Den anderen Nachbarn sei nicht zu trauen. Die beiden Alten aus dem zweiten Stock zum Beispiel tickten voll und ganz verkehrt. Giuditta sprach ein Katalanisch mit italienischen Einsprengseln, was ihren Worten eine lyrische Erhabenheit verlieh. Cristòfol übersetzte sie in unser brüderliches Kauderwelsch. Sie sei in letzter Zeit wenig zu Hause gewesen, und nein, sie habe nichts gehört. Sie und Gabriel seien sich ohnehin nur selten begegnet. Wenn sie sich auf der Treppe trafen, abends beim Müllhinunterbringen, seien ihre Unterhaltungen kurz und belanglos gewesen. Sie redeten übers Wetter, machten sich über die anderen Nachbarn lustig oder empfahlen einander eine Fernsehsendung. Wenn sie nicht zu Hause war, habe er manchmal die Bücher für sie entgegengenommen, die sie über einen Lesezirkel geliefert bekam.
    Wir zeigten ihr das Phantombild, und sie bestätigte, dass Gabriel darauf sehr gut getroffen sei. Soweit sie sich erinnere. Es sei ja nun – sie rechnete nach – über ein Jahr her, dass sie ihn zuletzt gesehen habe. Und nein, sie habe auch keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte.
    »Das ist wirklich alles, was ich euch sagen kann.« Damit erhob sie sich, das Gespräch war beendet. Trotz allem hatten wir den Eindruck, es mache ihr Freude, über Gabriel zu reden. Und als wir aufstanden, bat sie uns plötzlich um einen Gefallen: »Setzt ihr euch mal alle vier zusammen auf das Sofa? Nur einen Augenblick.«
    Es war ein großes und bequemes Sofa. Zu viert aber, aufgereiht wie die Daltons bei Lucky Luke, saßen wir doch sehr eng. Giuditta ließ uns eine Weile warten, ehe sie etwas sagte.
    »Ihr seid Gabriels Söhne, nicht wahr? Ihr seht euch sehr ähnlich. Als ihr anfingt, an manchen Wochenenden herzukommen, dachte ich es mir schon. Einmal, als

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