Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Gabriel wandte den Kopf zu ihr, wie alle anderen auch, aber er erkannte sie nicht. Natürlich nicht. Rita begann zu zittern, die Füße sackten ihr weg, und ihr schwanden zum zweiten Mal an diesem Tag die Sinne. Als wollte ein Ohnmachtsanfall dem anderen nacheifern, als wäre es ein Wettstreit der Ohnmachten.
Zwei Verkäuferinnen aus einem Wollgeschäft am Platz, die zugeschaut hatten, flößten ihr Agua del Carmen ein und brachten sie damit wieder zu Bewusstsein. Inzwischen war der Trauerzug schon auf dem Weg zum Friedhof. Nur Natàlia Rifà, die den Anblick offener Grabnischen nicht ertragen konnte, blieb zurück, um diesem Mädchen mit der seltsamen Uniform Gesellschaft zu leisten. Sie hatte Rita vom Vortag wiedererkannt, als sie vor dem Haus auf wer weiß was gelauert hatte, außerdem war ihr das Gesicht aus der Nachbarschaft geläufig. Sie brannte vor Neugier.
Rita erhob sich, vom gesegneten Alkohol benebelt. Ihr schwirrte der Kopf. Doch auch sie erkannte Frau Rifà wieder und fragte sie sogleich, ob der Verstorbene, Serafí, einen Zwillingsbruder habe. Sicher, sie hatte den Gipsarm gesehen, aber mittlerweile traute sie ihren eigenen Augen nicht mehr. Natàlia Rifà schenkte ihr ein mütterliches Lächeln und erklärte ihr, dass ihr Serafí in Wirklichkeit Gabriel Delacruz heiße. Dann setzte sie sich mit Rita in ein Café und erzählte ihr von dem Unfall, von Bundós Tod, von den Abenteuern der Fernfahrer von La Ibérica. Stück für Stück lösten sich die Missverständnisse vom Flughafen auf. Ihr hätte auch auffallen können, dass in der Todesanzeige im Correo Catalán stand, Bundó sei vor drei Tagen verstorben.
Mit dem nächsten Zug fuhren sie zurück nach Barcelona. Diesmal wirkte Rita so aufgewühlt, dass sie auch mit ihrer Uniform niemand für eine Kontrolleurin hielt. Auf der Fahrt beichtete sie der Pensionswirtin ihre Horoskopbesessenheit, die Prophezeiungen des Magiers und die schicksalhafte Begegnung am Flughafen. All das auszusprechen, fühlte sich befreiend an. Und Frau Natàlia war gerührt. Sie sah in Rita sich selbst wieder, dreißig Jahre zuvor, als sie in die Stadt gekommen war, um die Pension zu übernehmen, so sprudelnd unbefangen und gedankenlos. Um sich zu revanchieren, erzählte sie ihr ausgiebig von Bundó, von seiner Geschichte mit Carolina, und ließ noch lauter Pensionsanekdoten folgen. Er und Gabriel waren als Siebzehnjährige dort eingezogen. Da waren sie noch Kinder gewesen, und sie hatte sie, wie man so sagt, ein halbes Leben lang wachsen sehen. Natürlich hatte sie nicht die Mutter für sie gespielt, aber vielleicht doch ein bisschen, vor allem für Bundó, der es nötiger gehabt hatte.
Und plötzlich fiel ihr ein, dass sie ein Foto von ihm bei sich trug. Sie hatte es beim Aufbruch rasch noch mitgenommen, falls für den Grabstein eines benötigt würde, aber dann hatte Carolina ihr gesagt, sie habe schon eins. Sie zeigte Rita das Bild. Es war drei Monate alt, Bundó hatte es ihr als Andenken geschenkt, als er in die Via Favència umgezogen war. Rita musste sich überwinden, um diesen Unbekannten genauer zu betrachten, in dessen Namen sie sich verliebt und den sie in Wahrheit nie gesehen hatte. Die Pausbacken gaben dem Gesicht etwas Kindliches, eine lausbubenhafte Anmut, doch nie und nimmer hätte es mit ihm bei ihr Liebe auf den ersten Blick sein können. Zudem trug er ein scheußliches Hemd, mit einem Schwarz-Weiß-Muster, bei dem einem die Augen wehtaten; und das Schlimmste war, dass er auch noch sehr stolz darauf zu sein schien. Eine Stunde zuvor hätte sie noch für das läppischste Detail über Bundó teuer bezahlt, nun aber hatte sie es eilig, ihn zu vergessen.
Auf dem Heimweg wurde ihr klar, dass es nun darum ging, das von diesem Erdbeben angerichtete Chaos aufzuräumen und inmitten der Trümmer einen neuen Gast willkommen zu heißen … Gabriel Delacruz war sein Name? Die Sterne und Horoskope waren ein Mumpitz. Allein auf ihre Gefühle musste sie hören! Und es gab ja noch die verlorene Tasche. Gleich am nächsten Tag, oder wann immer die Lufthansa sie herausrückte, würde sie damit zur Pension gehen und sich diesem Gabriel vorstellen. Sie würde ihm ihr Beileid zum Tod seines Freundes ausdrücken, und alles würde neu beginnen.
Am Abend nach der Beerdigung fuhren Carolina und Gabriel mit in Herrn Casellas’ Auto zurück nach Barcelona. Unser Vater hatte vor, sich in der Pension zu verkriechen und für lange Zeit nicht mehr herauszukommen. Fünf Tage waren seit
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