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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Vilafranca del Penedès hatten sich zwei Bäuerinnen mit einem Korb voller Hühnerküken zu ihr ins Abteil gesetzt.
    »Ist es noch weit bis Vendrell?«, fragte sie die beiden.
    »Ist grad die Haltestelle, Mädchen! Musst schon rennen …«
    Sie sprang beim letzten Pfiff aus dem Zug, hörte den Bahnhofsvorsteher schimpfen und sah die Bäuerinnen hinter dem Fenster Beifall johlen. Die Uhr am Gleis zeigte drei Minuten nach vier an. Den Angaben eines Passanten folgend, brauchte sie fünf weitere Minuten, um eine niedliche Rambla zu durcheilen, einen Marktplatz zu überqueren und, eine enge Straße hinauf, auf den Kirchplatz zu gelangen.
    Als sie eintrat, hatten die Exequien schon begonnen. Der Geruch nach brennenden Kerzen schlug ihr auf den Magen. Der Tote war vor dem Altar aufgebahrt. Gerade würdigte der Pfarrer Serafí, Sohn der Stadt Vendrell, der nach dem Ratschluss unseres Herrn ein Leben voller Erschwernisse und Unwägbarkeiten zu führen gehabt hatte, aber auch geprägt durch einen eisernen Willen und allezeit auf der Suche nach dem rechten Weg. Die singende, montserratinische Stimme des Priesters hallte in dem barocken Gemäuer wider. Rita zählte gerade einmal dreißig Trauergäste, die sich in den Kirchenbänken unter der Kälte duckten. Sie setzte sich in die vorletzte Reihe und betrachtete die Nacken der anderen. Die Männer saßen rechts vom Altar, die Frauen links. In der ersten Reihe links stach der fromme Umriss dreier Ordensschwestern hervor. Neben ihnen saßen die Dame, die sie tags zuvor gesehen hatte, wie sie aus dem Haus in der Ronda de Sant Antoni eilte, und eine blonde junge Frau, die sehr weinte; die ganze Zeit sah Rita ihren Kopf untröstlich zucken und zog es vor, zu glauben, dass sie Serafís Schwester war, nicht seine Witwe. Die Seite der Männer war voller besetzt, und es fiel ihr schwer, irgendein Profil herauszugreifen. Sie nahm an, dass es sich um die Arbeitskollegen handelte (heute wissen wir, dass die gesamte Belegschaft von La Ibérica zugegen war, angeführt von Herrn Casellas). Letzten Endes, dachte sie, wenn sie selbst stürbe, wer würde zu ihrem Begräbnis kommen? Die Kollegen vom Flughafen, die Nachbarn, ihre vier Freundinnen, und das war’s. Viele Leute würden es erst Wochen oder Monate später erfahren, wie schon bei ihren Eltern.
    In diesen Überlegungen verlor sie sich während der ganzen Zeremonie. Ab und zu blickte sie zu dem Sarg hinüber. Dadrinnen, sagte sie sich, ruhte ihr Serafí. Sie würde es sich zur Gewohnheit machen, ihn an Allerheiligen zu besuchen, jedes Jahr würde sie ihm einen Blumenstrauß ans Grab bringen. Sie würde mit dem Zug nach Vendrell fahren; es würde ihr Geheimnis sein. Sie sah sich als klapprige Greisin, als Tantchen, als undurchschaubare alte Jungfer. Sie würde mit ihren Freundinnen Bingo spielen, nicht um Geld, nur mit Kichererbsen, und wenn eine der Witwen sie beim Vesper fragen würde, ob sie sich nicht allein fühle, würde sie Andeutungen über eine alte Liebe aus ihrer Jugend machen. »Eine tragische Geschichte«, würde sie sagen, »zu tragisch, als dass ich Lust hätte, sie zu erzählen«, und dann würde sie schweigen.
    Als der Priester das letzte Amen gesprochen hatte, reihte sich Rita ins Defilee der Trauergäste nach draußen ein. Ein Messdiener überreichte ihr ein Erinnerungskärtchen, und wieder las sie den Namen: Serafí Bundó Ventosa. Vor dem Tor stellten sich alle zu den Seiten der Treppe auf, um die Sargträger durchzulassen. Der Leichenwagen wartete mit offener Heckklappe. Es war ein wolkiger Tag, aber gerade blinzelte die Sonne hervor und erwärmte den Platz. Rita sah, wie im Halbdunkel des Kirchenraums ein paar Männer den Sarg anhoben und ihn sich auf die Schultern luden. Wohl die Freunde und Kollegen. Bald trat der Priester heraus, ein Gebet murmelnd und in Begleitung des Messdieners. Dahinter der Sarg. Sie schritten sehr langsam. Rita verfolgte die Szene, ohne sich rühren zu können. Alles war so schnell geschehen, dass ihr auf einmal die ganze Welt unwirklich schien. In dem Moment, als der Sarg an ihr vorbeikam, schlug ihr ein Sonnenstrahl ins Gesicht, und als sie ihre Augen mit der Hand beschirmte, damit ihr nichts entging, sah sie Gabriel vor sich, ihren Serafí, lebendig, trostlos wie am Tag zuvor, aber lebendig, den Sarg mehr schlecht als recht mit dem rechten Arm und der rechten Schulter stützend, den linken Arm in Gips. Was für ein Schock! Die Geistervision jagte ihr solche Angst ein, dass sie aufschrie.

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