Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
sondern außerdem zuckerkrank war: Darin befanden sich fünf Insulinampullen, zwei Spritzen, Watte und ein Gummiband.
Diese Inventur ließ ihn zurückdenken an die Aufregung, die sie immer alle drei ergriffen hatte, wenn sie die abgezweigten Umzugskisten öffneten. Wie sie lachten! So viel Freude! Und wie sie sich zankten! Gabriel sah auf den versammelten Inhalt und stellte sich vor, wie sie ihn aufgeteilt hätten. Bundó hätte die Kleidung behalten, keine Frage. Sie war mehr oder weniger in seiner Größe, und wie immer hätte er sie bald verschlissen. Er sah ihn schon in einem dieser sauteuren Pullover Möbel tragen, wie einen enterbten Adligen, und hörte ihn schon schimpfen, weil das Kaschmirgewebe sich an irgendeinem vorstehenden Nagel verfangen hatte. Petroli hätte das Spielzeug gewollt, die bronzene Meerjungfrau und vielleicht eine der Krawatten. Er selbst hätte den Gürtel und die Schuhe genommen und sie dann aus Scham nie angezogen, weil sie ihm zu schnöselig vorkamen. Das Etui hätten sie einem Kollegen bei La Ibérica geschenkt, der auch Diabetes hatte, und was die beiden Zeitschriften anging, bestand kein Zweifel: Die hätten sie einige Wochen lang im Pegaso gelassen, zum privaten Genuss für jeden von ihnen, dann wären sie eines Tages verschwunden. (Wenn er ihrer überdrüssig wurde, pflegte Bundó sie an einen der Kollegen zu verkaufen, die nur Inlandsumzüge fuhren.)
»Ein anderes Leben ist möglich.« Wie immer, wenn er eine Beute verteilte, kaute Gabriel auch nun wieder lange auf diesem Satz herum, zermalmte ihn und saugte ihn aus. Ja, ein anderes Leben war möglich. Und schließlich, ebenfalls wie immer, schluckte er ihn hinunter. Um die finsteren Gedanken zu verscheuchen, konzentrierte er sich von Neuem auf die Tasche. Was sollte er damit tun? Das Natürlichste wäre gewesen, sie zurück zum Flughafen zu bringen und zu schauen, ob er dort seine richtige Tasche wiederbekäme, aber dazu konnte er sich nicht überwinden. Stattdessen holte er sich das Notizbuch und hielt darin diese imaginäre letzte Aufteilung fest, die Nummer 200. Es schien ihm ein Akt der Gerechtigkeit. Danach verstaute er Bundós Sachen im Kleiderschrank und packte ein Paket mit Petrolis Anteil. Falls er ihn je im Leben wieder träfe, würde er es ihm geben. Die Zeitschriften behielt er. Er zog den Gürtel und die Schuhe an und ging hinaus auf die Straße. Nach zwanzig Schritten die Via Favènia hinab merkte er, dass sie ihm ein wenig eng waren. Er würde Blasen darin bekommen, zweifellos.
Der Kopenhagen-Reisende hatte wegen seines verlorenen Gepäcks gewiss mehrmals nachgehakt, vielleicht hatte er dabei den schmerzlichen Verlust der mitgebrachten Spielsachen für seine beiden Kinder betont (und keinesfalls den der Zeitschriften), doch hat er es nie zurückerhalten, weil Gabriel es nicht herausrückte. Exakt neunzig Tage nach der Reklamation wurde die Tasche im Käfig für endgültig verloren erklärt und der Besitzer mit einer lächerlichen Geldsumme entschädigt. Davon hätte er nicht einmal die Schnürsenkel seiner englischen Schuhe bezahlen können.
Wenn ein Gepäckstück, so wie dieses, für immer verschwunden war, sagte Rita, es sei in den Himmel gekommen. Es gefiel ihr, sich den Käfig als ein Fegefeuer vorzustellen, in dem sich das Schicksal all dieser verirrten Seelen entschied. Die Mehrzahl der Stücke kehrte zu ihren Eigentümern zurück und wurde nach der Phase der Ungewissheit wieder in Gebrauch genommen. Das Leben bedeutete demnach die Hölle. Diese Kosmogonie – der sich Gabriel, Bundó und Petroli mit ihren Raubzügen angeschlossen hätten – gehorchte keinen spirituellen Kriterien. Der Himmel der verlorenen Koffer war bloß eine Art, die Straftaten zu rechtfertigen und zu beschönigen, die Rita gemeinsam mit Sayago, Porras und Leiva verübte.
Ausgebildet hatte sich diese Neigung zum Delikt schon, kurz nachdem Rita am Flughafen zu arbeiten begonnen hatte. Sagen wir, sie erbte sie von ihrer Vorgängerin, einem Seelchen aus dem Viertel Clot, das soeben in Rente gegangen war. Carola hieß die Dame, sie war alleinstehend. Von zarter Gestalt, die blauen Augen stets wässrig, weinerlich, war sie im Käfig zu einer Institution geworden. Sie hatte mehr als zwanzig Jahre dort gearbeitet und war gewissermaßen seine Gründerin, sein Gehirn, das Vorbild für alle anderen. Anfangs, als es noch kaum Linienflüge nach Barcelona gab, war sie ganz allein für die Beschwerden der Passagiere zuständig gewesen. Die
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