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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Charakter, um die Methoden ihrer Vorgängerin zu modernisieren, und setzte, wenn sie Mitleid brauchte, ihre traurige Biografie ein. Eine würdige Nachfolgerin war sie hingegen beim Kofferplündern. Das kann ich bezeugen, denn ich habe es selbst erlebt. Als Kind verdankte ich einen Großteil meiner Garderobe diesen Gepäckstücken aus aller Welt. Da der Nachwuchs von Leiva und Sayago schon ausgewachsen war, nahm Rita alle Kinderkleidung mit. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Lederhose aus Tirol; an ein T-Shirt mit einem Bild vom Aristocats -Orchester und einem Spruch auf Englisch, den mir der Vater übersetzte: »That’s Entertainment!«; an ein Paar Stiefel aus glänzendem Lackleder, von denen meine Mitschüler meinten, sie seien für Mädchen (vermutlich hatten sie recht); an einen Matrosenanzug; an eine Jacke aus Cheviotwolle mit sehr langen Ärmeln, die mich an den Handgelenken kratzte; und an weiß-blaue Nike-Tennisschuhe, die mich eine Saison lang zum beliebtesten Jungen der Grundschule machten.
    Rita fühlte sich mit der täglichen Aufregung am Flughafen ganz in ihrem Element. Es war mehr als ihre Arbeit, es war ihr Leben. Den Beweis erbrachte meine Geburt. Am Anfang beschloss sie, nicht mehr zu arbeiten und sich mit Leib und Seele ihrem Kindchen zu widmen. Dass Gabriel, vor allem in meinen ersten Wochen auf der Welt, die meiste Zeit bei uns zu Hause verbrachte, gab ihr die Illusion, wir seien eine Familie, und sie redete sich ein, das gefalle ihr. Doch diese Verblendung währte nicht lange, und als die Phase vorbei war, in der es ihr ausreichte, mich beim Schlafen zu betrachten, um sich nicht zu langweilen, setzte sie alle Hebel in Bewegung, damit ihr Chef sie in den Käfig zurückkehren ließ. Es war ja noch die Zeit der willfährigen Hausfrauen, und da erklärten manche Arbeitskolleginnen sie für verantwortungslos und für eine schlechte Mutter. Sie hielt ihnen das Loblieb der Ersatzmilch entgegen, das die jüngsten und fortschrittlichsten Kinderärzte gerade sangen. Die Nuckelflasche befreite die Frau von der Sklaverei des Stillens! Seelenruhig konnte Rita frühmorgens zur Arbeit aufbrechen, unbesorgt, dass ich Hunger leiden müsste. An den Tagen, da der Vater bei uns schlief, war er es, der mich versorgte, und an den anderen Tagen übergab sie mich an eine hilfsbereite Nachbarin. Gelegentlich, wenn niemand zur Verfügung stand, kam es auch vor, dass sie mich mit in den Käfig nahm. Dann ging sie mit mir ins Hinterzimmer, öffnete einen der nicht reklamierten Koffer, richtete mir aus den Kleidern, die sie darin fand, ein Nest her und legte mich hinein. Angeblich protestierte ich kein bisschen und schlief sogar ruhiger als zu Hause. Wenn ich aufwachte und Hunger hatte, kochte sie Wasser ab – die von der Guardia Civil hatten einen Campingkocher in ihrer Bude – und gab mir das Fläschchen, während sie sich den Passagieren mit Gepäckverlust widmete. Mein glückliches Babygesicht ließ ihre Klagen verstummen.
    Vielleicht ist der Grund ebender, dass mir die Koffer mehr als einmal zum Bettchen wurden: Eine meiner frühesten Erinnerungen, da war ich noch sehr, sehr jung, ist meine Mutter, wie sie mit einem Koffer in der Hand in die Wohnung kommt. Sobald mir dieses Bild vor die Augen trat, wurde ich schläfrig und fing an zu gähnen. Sie kam immer bloß vom Flughafen, aber sie hätte auch von einer Reise um die halbe Welt zurückkehren können. Sie zog die Schuhe aus, schob den Koffer in eine Ecke, setzte sich mit mir aufs Sofa und bedeckte mich mit Küssen. In manchen Wochen stapelten sich die Gepäckstücke im Flur. Wenn dann der Vater uns besuchen kam, öffneten wir sie zusammen. Die Mutter wusste schon, was drin war, sie hatte sich den Inhalt ja mit Leiva, Sayago und Porras geteilt, aber es machte ihr Spaß, ihre Aufregung zu übertreiben und Gabriel und mich damit anzustecken. Als ich Jahre später mit dem Blick des Erwachsenen auf diese Szenen zurücksah, verstand ich besser, was ich damals als harmloses Familienglück empfunden hatte: Für die beiden war das Kofferöffnen ein erotisches Spielchen, es brachte sie sexuell in Stimmung. Diese Hypothese ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Immerhin war es ja ein verlorenes Gepäckstück, das sie zusammengeführt hatte. Und wenn wir uns schon mit der Erotik der Koffer beschäftigen, was haltet ihr davon, uns von Neuem auf ihre Spur zu begeben? Sollen wir in den Februar 1972 zurückkehren, als Rita all ihr Sehnen auf eine schwarze Segeltuchtasche

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