Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Geschichten, die sie aus jener Zeit erzählte, konnten den Filmen von Berlanga das Wasser reichen. Später, als der Luftverkehr zunahm, beauftragte die Direktion sie damit, die Abteilung nach denselben Richtlinien zu organisieren, wie sie am Flughafen Madrid zur Anwendung kamen. Das Seelchen reiste in die Hauptstadt, studierte die dortigen Methoden und passte sie den bescheideneren Bedürfnissen Barcelonas an, um ein effektives und transparentes Büro zu schaffen. Damit entstand der Käfig. Und es zeigte sich, dass hinter der schüchternen Fassade – so selbstlos und so hilfreich im Umgang mit der Kundschaft – eine große Strategin steckte. Carola hatte einen Plan ersonnen, mit dem sie sich ein Zubrot verdienen konnte, ohne dass irgendwer es bemerkte, nicht einmal ihre Untergebenen. Den Vorschriften gemäß mussten vierteljährlich alle Gepäckstücke, deren Besitzer sich nicht ermitteln ließen, mit einem Linienflug nach Madrid gebracht und dort in einem abgelegenen Teil des Flughafens verbrannt werden oder was auch immer. »Viel Arbeit für nix«, sagte sich das Seelchen und hielt es ob dieses Dilemmas für angebracht, der Firma Mühsal zu ersparen. Kein Tag verging, ohne dass sie, unterm Mantel, in der Handtasche oder in der Vesperdose versteckt, irgendeinen mehr oder weniger wertvollen Gegenstand nach Hause trug, den ihr die herrenlosen Koffer geboten hatten. Manchmal, wenn sie Damenkleidung fand, die ihr passte, schloss sie sich in der Toilette ein, zog eine Garnitur über die andere an, und auf dem Heimweg übersäten ihr Schweißperlen das bleiche Gesicht. »Ach, ach, die Hitzewallungen«, ächzte sie, wenn jemand sie fragend ansah. Dank dieser kleinen emsigen Raubzüge reisten die Koffer halb leer nach Madrid, und niemand schöpfte Verdacht. Am anderen Ende der Kette saß ein Bruder von Carola, alleinstehend wie sie, der die ganze Beute an seinem Flohmarktstand zum Verkauf anbot.
Als Rita in den Käfig kam, hatte der Fortschritt das Seelchen aus Clot gezwungen, ihr Gewerbe zu erweitern und Wohltaten zu verteilen. Mit dem Ausbau des Flughafens im Jahr 1968 hatte die Guardia Civil in der Halle ihren Posten eingerichtet, die Zahl der Angestellten hatte sich verdoppelt, und die Bedingungen für Diebstähle hatten sich drastisch verschlechtert. Überdies kam sie in die Jahre. Mehrmals wäre sie beinahe erwischt worden, immer wegen altersbedingter Unachtsamkeiten, und einmal hätte sie fast einen Herzanfall erlitten. Ihr wurde klar, dass sie Hilfe brauchte. Eingehend studierte sie alle Abläufe um sich herum, vertiefte sich in die Ticks und Trägheiten ihrer Kollegen und wählte schließlich Leiva, Porras und Sayago aus. Dabei spielten neben Sicherheitskriterien durchaus auch fromme Erwägungen eine Rolle, denn von allen Flughafenarbeitern waren die Putzleute die bedürftigsten. An einem Morgen mit wenig Verkehr, zur Frühstückszeit, versammelte sie die drei an einem Ecktisch auf der Terrasse des Cafés und erklärte ihnen ihren Plan. Sie sprach mit einer geheimnisvollen, trockenen Stimme, die sie an ihr nicht kannten, und immer wieder übertönte der Lärm der startenden und landenden Maschinen ihre Worte.
Also alle zwei, drei Tage. Wenn sie die Halle fegten. Würde sie ihnen ein geheimes Zeichen geben. Dann käme einer von ihnen mit dem größten Eimer an. Würde den Durchgang hinter dem Käfig säubern, wo nie jemand war. Man ließe vorsichtshalber einige Minuten verstreichen. Dann würde sie die Hintertür öffnen. Ein Bündel nicht abgeholter Gegenstände in den Korridor legen. Der Reinigungsfachmann würde dieses lästige Stück Abfall einsammeln. Es im Eimer aufbewahren. Bis zum Ende des Arbeitstages. Da sie alle vier zur selben Zeit Feierabend hatten, würde einer von ihnen das Bündel mitnehmen. Unbemerkt. An der Bushaltestelle würden sie sich den Inhalt aufteilen. Zu gleichen Teilen und jeder nach seinen Bedürfnissen. Aber sie wäre immer die Erste, die sich etwas aussuchen dürfte. Als Kopf der Gruppe.
Porras und Leiva hatten keinen Augenblick gezögert. Der wässrige Blick des Seelchens, vor Güte überfließend, gab ihnen die Gewissheit, dass sie nichts Unrechtes tun würden. Sie wären die Erben Robin Hoods. Stehlen würden sie von den Reichen, die mit dem Flugzeug flogen, und geben würden sie es den Armen, die zu Fuß gehen mussten; und diese Armen waren sie selbst. Sayago hatte sich die Schnurrbartspitzen gestreichelt. Er werde über die Sache nachdenken. Aus moralischen Gründen. Das
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